Anstandslosigkeit: ein neues Laster in Zeiten der Digitalisierung

erschienen in: NZZ, 29.12.2017

«Benimm dich anständig!» Diese Ermahnung war für meine Generation eine alltägliche Erziehungserfahrung. Heute gilt sie als Ausdruck einer repressiven Moral. Zu Recht, denn die unerträglichen Normen machten aus vielen Kindern angstbesetzte Anpasser statt eigenverantwortlich handelnde Menschen. Heute überwiegt die Überzeugung, dass Menschen, die sich frei entfalten können, Anstand und Respekt automatisch von Erwachsenen übernehmen – Lernen am Modell nennt man das.

Doch solche Modelle bekommen zunehmend abträgliche Konkurrenz. Viele von uns werden dieses Bild nie vergessen: Wie Donald Trump auf dem Nato-Gipfel den Premierminister von Montenegro beiseite schob, um selbst in der ersten Reihe zu glänzen. Trump lebte damit vor, was viele Eltern bei ihren Kindern wahrscheinlich tadeln würden. Spätestens seit er als «stärkster Mann der Welt» auch im digitalen Raum mit seinen Tweets den ersten Platz als Negativ-Vorbild belegt, kann unanständiges Verhalten kein individuelles moralisches Problem mehr sein, und auch kein Relikt eines verstaubten Begriffs. Es ist vielmehr ein Problem unserer Gesellschaft. Deshalb hat es auch nichts mit der oft gehörten Relativierung zu tun, jede ältere Generation habe der jüngeren Generation schon immer Anstandslosigkeit vorgeworfen.

Beispiele für gesellschaftliche Anstandslosigkeit

Beispiele für gesellschaftliche Anstandslosigkeit gibt es viele. Etwa der Streichelzoo in Norddeutschland, der geschlossen werden musste, weil Kinder im Beisein der Eltern mehrfach mit Steinen nach Ziegen geworfen, sie getreten und mit Stöcken geschlagen hatten. Oder das Verhalten von Anti-Feministen, die ihre Wut auf die weibliche Emanzipationsbewegung mit massiver Frontstellung im Internet oder auch in E-Mails artikulieren. Ähnlich die Berner Musiker eines Rap-Kollektivs, welche kürzlich Nationalrätin Natalie Rickli als «Schlampe» besungen haben. 

An viele andere, mit Anstandslosigkeit verknüpfte Verhaltensweisen haben wir uns gewöhnt: an den Abfall, der nach Partynächten am Boden entsorgt wird und den schlecht bezahlte Putzkolonnen am nächsten Morgen räumen. An die ältere Frau, die sich im vollbesetzten Bus an eine Stange klammert und niemand aufsteht – und selbst Kinder sitzen bleiben. Oder an die Gebäudebeschmierungen, die so schnell wie möglich übermalt und deren Kosten vom Staat übernommen werden – damit das Spiel wieder von vorne beginnen kann.

Warum nistet sich eine solche Welle der Anstandslosigkeit – wie dies der Kolumnist Axel Hacke in seinem neuen Buch formuliert hat – überall ein? Eine wichtige Rolle dürften die sozialen Medien spielen. Kommunikation findet immer weniger von Mensch zu Mensch statt, sondern auf digitalen Plattformen. Da ist nicht nur die Distanz zum Mitmenschen grösser, sondern auch zu Anstand und Moral. Man muss kaum Rücksicht auf andere nehmen, und wenn einem danach zumute ist, kann man seiner Häme ungehindert freien Lauf lassen. Unternehmen wie Facebook und Twitter entscheiden über unser Kommunikationsverhalten, und sie geben sich mit einem niedrigen Niveau zufrieden. Auch in Kommentaren zu Artikeln in Zeitungen ist der Ton deutlichanstandsloser geworden. Wo früher kontrovers diskutiert wurde, sind heute Beleidigungen und Lügen vorherrschend.Das hat unter anderem mit der Selbstfixierung vieler Menschen zu tun. Wer nicht zu einer Gruppe gehört, wird bekämpft und vielleicht sogar bedroht. Solidarität existiert nur noch zu Gleichgesinnten.

Selbstinszenierung: Die Arbeit am Ich-Ich-Ich

Viele junge Menschen lernen das, was Anstand heisst, vor allem in den sozialen Netzwerken. Doch sie verwechseln ihn mit Selbstinszenierung, mit der immerwährenden Arbeit am eigenen Ich-Ich-Ich und am öffentlichen Selbstportrait. Das ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft problematisch, denn Anstand als Rücksicht, Zugewandtheit und Solidarität erachtet Axel Hacke als Kitt, der uns zusammenhält. Anstand ist die vielleicht kleinste Tugend, aber möglicherweise die wichtigste, weil sie anderen guten Charaktereigenschaften vorausgeht und sichert, dass dasZwischenmenschliche gelingen kann. Haben wir uns in der Diskussion um die Digitalisierung auch schon mit solchen Fragen auseinandergesetzt?

Der Wunsch, die eigenen Vorzüge präsentieren zu können, steckt in uns allen. Das ist ein bedeutender Aspekt unserer Identität. Ich glaube an den guten Kern des Menschen und auch an die Erkenntnisse der Moralforschung im Anschluss an die Gruppe um Lawrence Kohlberg. Diese Forscher sind überzeugt, jeder Mensch trage ein angeborenes Gefühl in sich, wonach man etwas dafür tun muss, um mit anderen Menschen vernünftig umgehen zu können. Infolgedessen ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Anstand und Anstandslosigkeit nicht nur eine gesellschaftliche Konvention, sondern ein Grundbedürfnis unserer Kultur.

Mehr Herzensbildung und mehr Mut!

Jeder von uns hat das Potenzial, ein anständigerer Mensch zu werden. Wir sollten die Gefahr der Gewöhnung an den rauen Ton in unserer Gesellschaft bekämpfen, nicht nur im Betrieb oder in Schule und Familie, sondern auch in Politik und Medien.Der Mensch hat mehr Herzensbildung nötig. Zwar ist das ein Begriff aus der deutschen Klassik, der aber heute eine neue Bedeutung bekommt. Mehr «Bildung des Gemüths», wie dies Wilhelm von Humboldt formulierte, muss auch ein Element unserer Gesellschaft werden.

Doch der Mensch braucht auch mehr Mut. Mut zu sagen, was er denkt und für richtig hält oder nicht, aber ohne den anderen das Recht abzusprechen, eigene Gedanken zu haben. Das ist eine schwierige Aufgabe. Sie gelingt nur dann, wenn wir hässliche Dinge nicht mit hässlichen Worten sagen oder Provokation nicht lediglich als Stilmittel benutzen, sondern sie in ihrer Wirkung selbstkritisch überprüfen. Die Digitalisierungseuphorie bringt auch zwischenmenschliche Entgrenzung mit sich. Mit dieser neu umgehen zu lernen, ist nicht nur für die nachwachsende Generation eine grosse Herausforderung.

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Kommentare 2

Gäste - Dr. med. Hannes Geiges am Sonntag, 14. Januar 2018 18:38

Kürzlich berichtete eine Lehrperson an einer CVP-Versammlungder LP 21 habe kein „Herz“. Von Gerhard Pfister und RR Silvia Steiner (beide CVP) wurde das nicht in Abrede gestellt. Ihre Antwort darauf: "Das Herz" ist nicht Aufgabe der Schule, "Das Herz" ist Sache der Familie.
Für mich als Kinderarzt ist klar: Nirgendwo eine Arbeit mit Kindern ohne "das Herz" !!
Im Kanton Zürich ist am 4. März eine Abstimmung zur demokratischen Mitsprache beim LP 21.
Das Volk soll entscheiden können, ob Herz / Gefühl / Anstand neben dem Kopf auch noch einen Platz in der Schule haben soll.

Kürzlich berichtete eine Lehrperson an einer CVP-Versammlungder LP 21 habe kein „Herz“. Von Gerhard Pfister und RR Silvia Steiner (beide CVP) wurde das nicht in Abrede gestellt. Ihre Antwort darauf: "Das Herz" ist nicht Aufgabe der Schule, "Das Herz" ist Sache der Familie. Für mich als Kinderarzt ist klar: Nirgendwo eine Arbeit mit Kindern ohne "das Herz" !! Im Kanton Zürich ist am 4. März eine Abstimmung zur demokratischen Mitsprache beim LP 21. Das Volk soll entscheiden können, ob Herz / Gefühl / Anstand neben dem Kopf auch noch einen Platz in der Schule haben soll.
Gäste - Nina am Dienstag, 23. Januar 2018 14:20

Mir ist übel, ich habe gerade ihr Statement zum Thema Strafen gelesen.
Wenn ich die Wut, die von all den Strafen meiner Kindheit zurückgeblieben ist, ausleben würde, dann käme mir eine Maschinenpistole gerade recht!
Studieren sie bitte einmal den Unterschied zwischen einer Strafe und einer Konsequenz! Es gibt ihn und er ist essenziell für gute Erziehung.

Mir ist übel, ich habe gerade ihr Statement zum Thema Strafen gelesen. Wenn ich die Wut, die von all den Strafen meiner Kindheit zurückgeblieben ist, ausleben würde, dann käme mir eine Maschinenpistole gerade recht! Studieren sie bitte einmal den Unterschied zwischen einer Strafe und einer Konsequenz! Es gibt ihn und er ist essenziell für gute Erziehung.
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