Auf Hochleistung getrimmt - Kinder in der Optimierungsgesellschaft
Erschienen in: Aargauer Zeitung /Die Nordwestschweiz, 02.12.2024, 2.
Die Verschwendung von Humankapital ist ein Hindernis unserer florierenden Gesellschaft. Hochleistungen sind Wegmarken unserer Leistungskultur. Fleissige Kinder und Heranwachsende mit guten Noten haben beste Aussichten auf eine erfolgreiche Laufbahn. Familien und Schulen, die alles tun, damit der Nachwuchs im Wettbewerb besteht, sind auf dem richtigen Weg.
Das tönt gut. ist aber nur teilweise richtig. Selbstverständlich gibt es junge Menschen, die Hochleistungen erbringen, weil sie überdurchschnittlich intelligent und sogar unterfordert sind. Doch um solche Hochbegabte geht es hier nicht. Im Mittelpunkt stehen die, deren Potenzial zu stark beansprucht wird. Sie müssen Leistungen erbringen, die ihre Fähigkeiten übersteigen. Überleister heissen sie in der Forschung.
Immer höher, immer besser tut nicht allen Kindern gut
Der bildungspolitische Blick auf «immer höher und immer besser» blendet aus, dass ein leistungsorientiertes Leben manchen Heranwachsenden nicht gut tut. Zwischen der Konzentration auf Höchstleistungen und dem rasanten Anstieg an Therapien besteht ein Zusammenhang, der inzwischen vielfach belegt ist. Doch dieser Tatsache schaut unsere Gesellschaft nicht gern in die Augen. Probleme werden lieber individualisiert und generalisierend überehrgeizige Eltern dafür verantwortlich gemacht.
Solche Zuschreibungen sind zu einfach. Hauptursache sind nicht in erster Linie ambitionierte Elternhäuser, eher ist es die Bildungspolitik. Sie treibt die Akademisierung des Bildungssystems voran und postuliert die «verantwortete Elternschaft» als Grundbedingung für den Schulerfolg der Kinder. Darum fühlen sich viele Väter und Mütter verpflichtet, als Produzenten des Nachwuchses zu handeln und ihn auf die Hochleisterbühne zu stossen. Ihr Engagement wirkt bisweilen überdimensioniert. Das betrifft nicht nur den Tunnelblick aufs Gymnasium, sondern ebenso Jugendliche mit weniger ausgeprägten Begabungen, die aber unter allen Umständen nicht der Realschule (Sek C) zugeteilt werden sollen, genauso wie Langsamlernende und Hyperaktive, die mit Therapien normalisiert werden müssen.
Leistungsdruck kann zu Selbstzweifeln führen
Nicht immer, aber oft, tun Bildungspolitik und Wirtschaft so, als ob Leistungsdruck eine notwendige Begleiterscheinung der Hochleistungsgesellschaft sei. Dieser Trend macht glauben, in unserer Optimierungskultur müsse man den Kindern lediglich ein paar Resilienzkurse in den Rucksack packen und sie in privaten Förderkursen so lange schleifen, bis sie unseren Vorstellungen entsprechen. Doch es gibt keine Entwicklungsspritze wie dies mit Ozempic zum Abnehmen möglich ist. Kinder spüren die Erwartungen der Erwachsenen und deren Enttäuschung, wenn sie diese nicht erfüllen. Der Erfolgsdruck beginnt oft schon im Kindergarten.
Immer gute Noten haben zu müssen führt bei manchen Kindern zu Selbstzweifeln. Mehr als 50 Prozent haben bereits am Ende der Primarschule eine Therapie hinter sich und mehr als zehn Prozent sind von Schul- und Prüfungsangst geplagt. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie spricht sogar von «Burnout Kids» respektive Erschöpfungsdepressionen.
Überleister sind misserfolgsorientiert
Selbstzweifel gehen einher mit mangelndem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Die Wissenschaft nennt dies das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Selbstwirksame Menschen halten sich für fähig, neue Dinge zu lernen, Einfluss zu nehmen und damit Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Überleister haben oft eine tiefe Selbstwirksamkeit, weil diese durch Selbstzweifel geschwächt wird. Sie sind überzeugt, ihre Erfolge seien nur Zufälle. Darum schreiben sie diese nicht sich selbst zu, sondern den Eltern, dem Glück, dem Zufall. Überleister sind nicht erfolgs-, sondern misserfolgsorientiert.
Was eine förderliche Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit sein soll, ist neu zu definieren. Kinder müssen nicht durchgehend Hochleistungen an den Tag legen. Doch dies ist kein Aufruf zum Mittelmass. Eher ist es ein Aufruf zu einem Perspektivenwechsel, weg von der Kultur der Überleistung hin zu authentischeren Kindern.
Heranwachsende dürfen manchmal durchschnittlich sein, Fehler machen und Misserfolge haben. "Das Herz der Kinder darf leben und wirken, doch sie müssen nicht immer glänzen." Auf der Basis unserer Hochleistungsgesellschaft ist dieses Zitat von Heinrich Pestalozzis zukunftsträchtiger denn je.
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