Bourdieu, zum Beispiel

An unseren Universitäten arbeitet ein sehr hoffnungsvoller wissenschaftlicher Nachwuchs. Das gilt ganz besonders für die Erziehungswissenschaft. Meine Einschätzung hat sich im Sommer an der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung an der Universität Bern bestätigt. Obwohl Tagungen dieser Art in der Regel sehr unterschiedlich sind – je nachdem, wo und von wem sie durchgeführt werden – haben sie etwas Gemeinsames: Die Neigung vieler junger Nachwuchsforschenden, grosse Theoretiker für Heilige zu halten. Bourdieu, zum Beispiel. Jeder Satz, den er geschrieben hat, wird als kostbare Perle zitiert und im Hinblick auf die eigene Forschungsarbeit diskutiert. Das ist zwar wissenschaftlich gesehen hoch korrekt, aber es hat auch zur Folge, dass sich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selten getrauen, einen theoretischen Gedanken weiter zu entwickeln oder eine Erkenntnis aus dem Blickwinkel der heutigen Gesellschaft zu hinterfragen. Vielleicht deshalb, weil viele denken, dass nichts weiter von wissenschaftlicher Redlichkeit entfernt sein könne als ein eigener, von einer theoretischen Maxime abweichender Gedanke. Nur, Bourdieu und all die grossen Denker waren keine Heiligen – obwohl man dies an der ehrfürchtigen Art, wie der wissenschaftliche Nachwuchs sie teilweise aufnimmt, meinen könnte.

Das ist in anderen Ländern anders. Im Rahmen meiner internationalen Tätigkeit in der Bildungsforschung staune ich immer wieder, wie Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler - z.B. in Argentinien oder auch im Nahen Osten - nicht nur unsere europäischen Theoretiker - wie eben Bourdieu - bestens kennen, sondern ihnen gegenüber weit kritischer eingestellt sind und sie in Bezug auf ihre eigene (bildungs-)politische Situation in ihrem Land hinterfragen und kritisch kommentieren.

Mir scheint es als ein Fehler, dass viele junge Menschen hierzulande eine derartige Ehrfurcht vor den grossen Denkern haben und nur wenige sich wirklich getrauen, kritisch zu denken und die (Erziehungs-)Wissenschaft zu hinterfragen. Ich wünschte mir Nachwuchstalente, die neue und unbequeme Fragen stellen, mehr nach Abweichungen suchen als nach Kongruenzen, falsche Annahmen zur Sprache und Theorieabweichungen zur Diskussion bringen. Mein Wunsch entspricht in etwa dem, was John Newman als «knowledge as a habit» genannt hat. Eine solche neue Gewohnheit verlangt einen nachhaltigen Einsatz, zu dem neben der Aneignung von Wissen vor allem Zweifel, Kritik – und auch Selbstkritik – gehören.

Solche Fähigkeiten sollten wir als Universitätsdozentinnen und -Dozenten sowie als Doktorväter und Doktormütter viel stärker fördern und unterstützen, zum Beispiel auch im Rahmen von Anerkennungs- und Förderpreisen!.

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