"Büezer Kinder", die es ans Gymnasium schaffen

erschienen in NZZ am Sonntag, 19.11.2023, 23. 


Begabte Kinder aus bescheidenen Milieus landen selten im Gymnasium, auch wenn sie das intellektuelle Rüstzeug mitbringen. Nur 4 Prozent schaffen es, wenn der Vater über keinen Bildungsabschluss verfügt, 20 Prozent, wenn er eine einfache Berufslehre absolviert hat. Diese sogenannten Büezer-Kinder sind aussagekräftige Abweichungen von der Norm.

Aufstieg durch Bildung tönt salbungsvoll - ist es aber nicht

Gemäss Pisa-Definition gelten sie als bildungsfern. Ihre Eltern sind bescheiden ausgebildet und können bei den Hausaufgaben kaum helfen. Das Geld reicht knapp zum Leben, und es gibt kein eigenes Zimmer mit Schreibtisch. Die Bildungspolitik erfreut sich an diesen Kindern. «Aufstieg durch Bildung», heisst es dann salbungsvoll. Sie gelten als Beweis für die funktionierende Durchlässigkeit unseres Bildungssystems.

Ein Blick in die Empirie widerlegt solche Meinungen. Nach wie vor repräsentiert unsere Gesellschaft ein hierarchisch gestuftes Bildungssystem – nach Einkommen, Besitz und Status. Zwar sind die Bildungschancen für alle Kinder verbessert worden. Doch die Privilegien von Akademikerfamilien haben sich verstärkt. Die Daten des Bundesamtes für Statistik belegen, dass ihre Kinder siebenmal häufiger eine Hochschule besuchen als solche aus einfachen Verhältnissen.

Elternunterstützung gibt es bei Büezer-Kinder kaum

Daran sind auch weiche Faktoren schuld. Beispielsweise die Elternunterstützung bei Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitungen sowie Nachhilfe oder Lernstudios. In einfach gestellten Familien sieht es eher anders aus. Dies Eltern sehen das Gymnasium kritisch, sie scheuen die Investitionskosten und streben vor allem eine verwertbare Ausbildung, also eine Berufslehre, an. Zudem soll das eigene Kind «am Boden bleiben» und sich intellektuell nicht von der Familie entfernen.

Interessant wäre es also von solchen Büezer-Kindern zu wissen, warum sie trotz all dem erfolgreich waren? Diese Frage war für uns Grundlage einer Studie mit gut 200 Erwachsenen aus solchen Milieus, die das Gymnasium besucht und eine akademische Karriere eingeschlagen haben. Unsere Hauptergebnisse erstaunen. Aber nur auf den ersten Blick.

Weshalb soziale Patinnen und Paten so wichtig sind

Mehr als die Hälfte war beim Gymi-Übertritt auf sich selbst gestellt. Lediglich je 20 Prozent erhielten Unterstützung von nahen Personen wie Lehrkräften, Mentorinnen und Mentoren oder von den Eltern. Als wichtigste Faktoren für ihren Bildungsaufstieg bezeichnen die Befragten Motivation, Fleiss und Begabung. Das ist logisch. Denn wer es aus bescheidenen Verhältnissen ins Gymnasium schafft, profitiert nach wie vor eher zufällig vom Bildungssystem. Vor allem zählen eigene Ressourcen.

Doch das Glas lässt sich auch als halbvoll betrachten. Immerhin 20 Prozent wurden familiär unterstützt. Eltern oder Verwandte waren stolz auf das smarte Kind und taten alles, ihm den gymnasialen Weg zu ermöglichen. Der sonderbare Begriff der Bildungsferne ist in dieser Hinsicht zu relativieren. Gleiches gilt für die vorherrschende Überzeugung, Lehrkräfte würden begabten Jugendlichen aus einfachen Milieus von einer gymnasialen Laufbahn abraten. Nein, in unserer Studie haben sich 20 Prozent als soziale Paten für ihren Übertritt ins Gymnasium eingesetzt.

Das Recht der Kinder aus einfachen Verhältnissen auf eine faire Unterstützung

Besonders überraschend ist die Bedeutung der Aufstiegsangst. Drei von fünf Befragten berichten im Rückblick über ihre Sorge, nicht genug intelligent fürs Gymnasium gewesen zu sein und über Ängste, sich dort fehl am Platz zu fühlen. Als Ursache nennen sie skeptische Eltern («Du glaubst, du seiest jetzt etwas Besseres») oder Lehrkräfte («Die Anforderungen dürften schwierig werden für dich»). Ein Drittel sagt, sie würden auch heute noch immer wieder an den eigenen Leistungen zweifeln und denken, den Erfolg nicht verdient zu haben.

Was folgt aus diesen Ergebnissen? Dass sich das Sprichwort «Jeder und jede ist des eigenen Glückes Schmied» zu bewahrheiten scheint. Die Mehrheit der Befragten ist überzeugt von der grossen Bedeutung ihrer Bildungsresilienz: Widerstandsfähig sein, sich durchsetzen können und mit Fleiss, Motivation und Hartnäckigkeit punkten. Aus der Rückschau sind das für sie die Hauptgründe, weshalb ihnen der Weg ins Gymnasium gelungen ist – allerdings ist das eher eine Bestätigung dafür, dass die Chancengerechtigkeit in der Schweiz noch wenig funktioniert.

Es darf nicht sein, dass benachteiligte Kinder in erster Linie über personale Ressourcen verfügen müssen, damit der Gymi-Übertritt gelingt, während solche aus begüterten Elternhäusern auf familiäre und andere Unterstützung zurückgreifen können. Kinder aus einfach gestellten Familien haben das Recht, faire Chancen bei der Überwindung von Nachteilen zu bekommen. Deshalb sollten ihnen kompensatorische und kostenfreie Fördermassnahmen bereits in der Primarschule angeboten werden. Das wäre Chancengerechtigkeit. 

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