Die Popularität von Privatschulen nimmt zu: Sind öffentliche Schulen schlechter?
erschienen in: NZZ, 09.12.2024, 19.
Elitär, exklusiv, käuflich und ungerecht, sagen die Gegner – innovativ, leistungsförderlich, individualisiert und familienfreundlich, die Befürworter. Die Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Bei vielen Eltern sind Privatschulen beliebt. Bildungsverantwortliche und Wissenschaft erachten sie oft eher als geduldete Konkurrenz. Dies könnte eine mögliche Ursache für den dürftigen Forschungsstand im Privatschulwesen sein.
Schweizweit besuchen fast sechs Prozent der Heranwachsenden eine Schule mit privatrechtlicher Trägerschaft. Ihr Marktanteil ist seit Jahren relativ konstant, obwohl immer wieder neue Privatschulen entstehen, während andere schliessen müssen. Wer trotzdem von einem Privatschulboom spricht, hat wahrscheinlich reiche Gemeinden am Zürichsee, im Kanton Zug, in Basel-Stadt oder in der Region Genf im Blick, wo die Privatschüleranteile bis gegen dreissig Prozent ausmachen können. Kinder von Expats besuchen fast doppelt so oft eine Privatschule wie einheimische Schulkinder.
Erwartungen und Ansprüche
Die Popularität von Privatschulen ist deutlich gestiegen. Gemäss einer neuen Mercator-Studie würden fast sechzig Prozent der befragten Eltern ihren Nachwuchs privat beschulen lassen, wenn dies für sie finanziell machbar wäre. Sie haben hohe Erwartungen und Ansprüche, wie eine optimale Bildung aussehen soll, deshalb schauen sie den Lehrerinnen und Lehrern genauer über die Schultern. Von der öffentlichen Schule wünschen sie sich kleinere Klassen, eine homogenere Schülerschaft, weniger Mobbing. Solche Aspekte sehen sie in Privatschulen verwirklicht, doch ebenso individualisierte Lernformen und -inhalte, Betreuungsangebote mit Ganztagsunterricht und bilingualer Ausrichtung sowie den aktiven Einbezug des Elternhauses. Meist unerwähnt bleibt jedoch die recht verbreitete Überzeugung, Privatschulen könnten die Matura des Nachwuchses garantieren. Auch heute noch gelten sie oft als Auffangbecken für weniger begabte Kinder aus gut betuchten Elternhäusern.
Deshalb werden Privatschulen auch als Konkurrenz des öffentlichen Bildungssystems verstanden. Warum dem so ist liefern sowohl die Daten der Pisa-Studien als auch neue erziehungswissenschaftliche Untersuchungen. Egal, ob man das Alter der Lehrkräfte oder die Zufriedenheit der Kinder und Jugendlichen unter die Lupe nimmt – die Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Schulen sind marginal. Doch in der Leistung stechen die Privaten hervor. Ihre Klientel ist besser in Mathematik, im Lesen und in der Rechtschreibung. Sie haben weniger Sitzenbleiber, und in der Sekundarstufe I sind Privatschülerinnen und -schüler denen aus der öffentlichen Schule bis zu einem halben Jahr voraus.
Soziale Entmischung
Allerdings können solche Vorteile statistisch fast vollständig auf die Selektivität zurückgeführt werden. Wird die homogene und gut situierte Herkunft der privat Beschulten berücksichtigt, schneiden öffentliche Schulen ein wenig besser ab. Dass Privatschulen nicht ausgeprägter von diesem Herkunftseffekt profitieren, ist erstaunlich und spricht eher für die öffentlichen Schulen und ihre Integrationsfähigkeit der Kinder.
Besonders verbreitet ist die Kritik, Privatschulen seien die alleinigen Treiber von schulischen Segregations- und Benachteiligungsprozessen. Doch diese Beanstandung stimmt so nicht. Auch im öffentlichen Bildungssystem gibt es seit längerem einen Trend zur sozialen Entmischung – von Kitas über Kindergärten und Volksschulen bis zu Gymnasien. Bildungsambitionierte Eltern ziehen in gut situierte Quartiere, in denen das Milieu der «sozialen Nachbarn» ein ähnliches wie das eigene ist und Kinder mit ihresgleichen die Schulbank drücken. Öffentliche Bildungsinstitutionen locken zudem mit attraktiven Schulprofilen und Zusatzangeboten. Meist existiert auch ein spriessender Fördermarkt, von Nachhilfeschulen, Mathematikstudios bis zu Sommercamps in England für das Sprachtraining. Solche Angebote fördern die soziale Spaltung auch innerhalb des öffentlichen Bildungssystems. Doch diese Inkongruenz fällt kaum auf.
Dazu kommt ein weitere, selten geäusserte Kritik. Privatschulen wie auch selbstständige Lernanbieter im Bereich der öffentlichen Schulen tragen dazu bei, die Berufsbildung zu schwächen. Wer sein Kind für teures Geld in eine Privatschule schickt respektive in Gymivorbereitungskurse oder in solche zum Bestehen der Probezeit, hat wahrscheinlich den akademischen Weg im Blick und kaum eine Berufslehre. Das scheint nachvollziehbar. Andererseits – und das ist das Paradoxe – wächst die Privatschulquote nirgends so sehr wie in der Berufsbildung. Luca Preite hat dieses Phänomen untersucht. In der Schweiz gibt es etwa fünfzig Privatschulen mit Fokus Berufslehre, schreibt er, zum Beispiel als Kaufmann, Informatikerin, medizinischer Praxisassistent oder als Fotografin.
Welche Vielfalt wollen wir?
Statt in einem Betrieb als Lernende zu arbeiten und parallel die Berufsfachschule zu besuchen, bieten private berufsbildende Schulen zwei Jahre Unterricht und ein Jahr Praktikum mit Lehrabschlussprüfung an (heute Qualifikationsverfahren genannt). Junge Menschen bekommen so eine vollwertige Berufsausbildung. Doch der Haken ist auch hier das finanzielle Kapital. Gut 30'000 Franken kostet eine solche Ausbildung. Chancengleichheit sieht anders aus. Wollen Bildungs- und Gesellschaftspolitik der wachsenden sozialen Segregation entgegenwirken, müssen sie private und öffentliche Schulen gleichermassen berücksichtigen. In beiden Systemen gibt es Leuchtturmschulen, doch es kommt auf die Qualität und Innovationskraft der Einzelschule an. Während sich viele Privatschulen gut vermarkten, geht dies im öffentlichen Bereich zu oft unter. Nicht wenige Volksschulen klagen zu viel – über Unterfinanzierung, fehlende Ressourcen, die Überlastung der Lehrkräfte, zu ehrgeizige Eltern, Lehrermangel und so weiter. Solche Beanstandungen sind zwar mehr als berechtigt. Trotzdem schneiden sich Schulen ins eigene Fleisch. Sie treten viel zu wenig selbstbewusst auf. Ihre guten Bildungsprofile zur individuellen Förderung aller Kinder, die Beziehungsarbeit zwischen Lehrkräften und Heranwachsenden, die Betonung der Haltekraft für alle Kinder oder die intensive Elternarbeit – solche Bemühungen werden durch die vielen Klagen verdeckt.
Privatschulen treffen den Zeitgeist besser. Der Zuspruch, den sie erfahren, gleicht einem Kulturwandel. Einerseits ist es die internationalere Zusammensetzung der Bevölkerung mit einer zunehmenden Anzahl an Kadermitarbeitenden. Sie halten sich nur zeitweise in der Schweiz auf, weshalb sie ihre Kinder in einer internationalen Schule ausbilden lassen wollen. Andererseits liebäugeln bildungsbeflissene Einheimische zunehmend mit alternativen pädagogischen Schulprofilen. Doch die Bildungspolitik tischt solche Erkenntnisse zu oft mit dem Schlagwort der drohenden Zweiklassengesellschaft ab. Tatsache ist, dass in öffentlichen Schulen nicht wenige Eltern ihren Nachwuchs ähnlich optimieren wollen wie im Privatschulbereich. Und das kostet. Entscheidend – ob Privat oder Staat – ist das finanzielle Kapital der Familie. Dazu gehört auch der Berufsbildungssektor.
Unsere Gesellschaft braucht einen grundlegenden und vergleichenden Diskurs zu den Leistungen des öffentlichen und privaten Bildungswesens. Die Debatte sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Doch die Politik ist es – von links bis rechts – welche die entscheiden Fragen beantworten muss: Welche Vielfalt von öffentlichen und privaten Schulprofilen erachtet sie als geeignet, um ein demokratisch-pluralistisches, aber ebenso chancengerechteres Bildungssystem zu ermöglichen? Wie viel Freiheit des Wettbewerbs ist vereinbar mit einem Bildungswesen, das öffentliche und private Schulen nicht als Konkurrenz begreift, sondern als sinnvolle Ergänzung?
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