«Knaben sind die grossen Bildungsverlierer». Weshalb diese Aussage falsch ist*
Knaben geben in fast allen industrialisierten Ländern Anlass zur Sorge, weil sie schulisch hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten zurückbleiben. Sie zeigen auch mehr Entwicklungsprobleme als Mädchen und neigen verstärkt zu exzentrischem Verhalten, welches von grosser Zurückhaltung bis zu Aggressivität reicht. Es überrascht deshalb nicht, dass die PISA-Studien, die wiederholt einen Anteil von ca. 15 Prozent vorwiegend männlicher Jugendlicher mit schlechten Fachleistungen nachwies, Knaben zur «Risikogruppe» erklärten. Heute gelten sie oft gar als die grossen Bildungsverlierer.
Die Diskussionsmuster sind zwar unterschiedlich, doch lassen sich zwei Perspektiven unterscheiden: Während die erste Perspektive die Nachteile der Knaben lediglich als die kurzfristigen Kosten ihrer langfristigen Vorteile darstellt und keinen Bedarf auf eine forcierte Konzentration auf die Knaben formuliert, drängt die zweite Perspektive auf eine solche «Knabenwende». Sie basiert auf der Argumentation, wonach sich die Bildungschancen der Mädchen derart verbessert hätten, dass sie heute sogar erfolgreicher in der Schule seien als die Knaben. Deshalb dränge sich die Forderung auf, den Knaben mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Solche Argumentationsmuster sind für mich Anlass, etwas genauer hinzuschauen und zu fragen, was denn dahinter steckt. Sind Knaben wirklich leistungsschwächer als Mädchen und die grossen Bildungsverlierer?
Zumindest auf der Basis der PISA-Ergebnisse lassen sich keine eindeutigen Schlüsse ziehen. Zusammenfassend können folgende Aussagen gemacht werden: Während in der Lesekompetenz Differenzen zu Gunsten der Mädchen bestehen, ergeben sich keine Unterschiede in der naturwissenschaftlichen Bildung. In der Mathematik basiert der Leistungsvorsprung der Knaben vor allem auf der Spitzenleistung einer relativ kleinen Gruppe, während die Geschlechterverteilung im mittleren Leistungssegment ausgeglichen und im unteren Segment signifikant stärker zuungunsten der Knaben ausfällt. Insgesamt streuen ihre Leistungen weit stärker als diejenigen der Mädchen.
Ein Blick in die statistischen Daten der Bildungsforschung fördert ein ebenso gemischtes Bild zu Tage. Allgemein gilt: Je geringer qualifizierend die Schulform, desto höher der Knabenanteil. So sind sie an Gymnasien unter-, an Realschulen überrepräsentiert. Knaben gehören deutlich öfter als Mädchen zu den Schulschwänzern und zu Schulabbrechern, weshalb «Dropout» als männliches Phänomen bezeichnet wird. Benachteiligungen von Knaben zeigen sich teilweise bereits früh in der Schullaufbahn. So werden Knaben häufiger Sonder- und Sprachheilschulen zugewiesen als Mädchen und auch bei der Einschulung häufiger zurückgestellt, während diese wiederum vermehrt früh eingeschult werden. Mit Blick auf die gesamte Schulzeit weisen Knaben höhere Klassenwiederholungsraten auf und erhalten beim Übergang in die Sekundarstufe I bei gleicher Leistung wie die Mädchen negativere Leistungseinschätzungen
Knaben haben zudem eine deutlich höhere Säuglings- und Kindersterblichkeit, bekommen dreimal häufiger das ADHS-Syndrom diagnostiziert und begehen als junge Männer viermal häufiger Selbstmord als Mädchen. Männer sterben zudem im Durchschnitt sieben Jahre früher als Frauen. Gemischt ist das Bild aber auch insofern, als Frauen in verschiedener Hinsicht genauso benachteiligt sind. Zunächst gilt dies für ihren Berufsabschluss, obwohl sie in höheren Bildungsgängen übervertreten sind. Von den unter 20jährigen Frauen verfügen zwischen 7 und 12 Prozent über keinen allgemeinbildenden Abschluss, während es bei den Männern lediglich zwischen 5 und 9 Prozent sind. Ferner nehmen Frauen nur in eingeschränktem Masse berufliche Spitzenpositionen ein. Schliesslich sind ihre Saläre immer noch wesentlich tiefer als diejenigen von Männern.
Die Überrepräsentanz der Knaben lässt sich somit insbesondere in negativ besetzten Bereichen nachweisen. Erstaunlicherweise gilt aber auch Gleiches für positive Extremgruppen. Knaben verfügen in diesem Segment gegenüber den Mädchen über bedeutsame Vorteile. So werden Knaben öfter und früher als hochbegabt identifiziert, deutlich häufiger begabungsfördernden Massnahmen zugewiesen und privat auch stärker gefördert als Mädchen. Auch Lehrpersonen bezeichnen Knaben in der Regel als talentierter als Mädchen, auch wenn sie über das gleiche Begabungspotenzial verfügen. Knaben gehören auch häufiger zu den Klassenüberspringern und profitieren ausgeprägter von akzelerativen Begabungsfördermassnahmen. In akademischen Exzellenzprogrammen sind junge Männer ebenfalls stärker vertreten als Frauen.
Es gibt somit innerhalb der Knaben- als auch der Mädchengruppe grosse Streuungen. Das bedeutet, dass nicht alle Knaben benachteiligt sind, sondern, dass es Subgruppen gibt, die gute, sehr gute oder sogar ausgezeichnete Leistungen erbringen. Insbesondere Knaben aus bildungsnahen Familien sind kaum Benachteiligungen ausgesetzt.
Ungeachtet solcher Analysen, die auf die verschiedenen Gruppen sehr erfolgreicher Knaben verweisen, konzentriert sich die mediale Diskussion weitgehend auf den benachteiligten Knaben respektive jungen Mann als Bildungsverlierer. Dies ist falsch. In allen sozialen Schichten gibt es Knaben, die weniger leisten als Mädchen, aber auch Gruppen von Knaben mit überdurchschnittlichen Leistungen. Genauso gibt es Mädchengruppen, die Unterdurchschnittliches leisten. Letztlich sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht besonders gross und nicht konstant. Die Unterschiede innerhalb der Knaben- und Mädchengruppe können sogar grösser sein als zwischen den Geschlechtern.
Was bedeutet dies für die gesellschaftliche resp. bildungspolitische Diskussion? Erstens, dass wir von der Mädchen- und der Knabentypik abrücken und den Blick auf die differenzierten Erkenntnisse innerhalb der Geschlechter lenken sollten. Es gibt eine Koexistenz von Nach- und Vorteilen sowohl für Knaben als auch für Mädchen. Zweitens sollten wir den Fokus nicht lediglich auf die Schule richten. Schulversagen hat immer auch einen milieuspezifischen und jugendkulturellen Hintergrund. Erst aus einem solchen Blickwinkel erkennen wir, dass Geschlechterungleichheit weniger ein Defizit der Knaben ist, sondern eines der Wahrnehmung: Es sind vor allem soziale, psychologische, ökonomische und kulturelle Faktoren, die bestimmen, welche Knaben bevorzugt und welche benachteiligt werden und deshalb mehr oder weniger von schlechten Schulleistungen betroffen sein können. Knaben allgemein als Bildungsverlierer zu stempeln ist genauso voreilig wie Mädchen als Bildungsgewinnerinnen.
* Zu Literaturangaben siehe meinen Aufsatz: Stamm, M. (2009). Underachievement von Jungen: In Mammes, I. & Budde, J. (Hrsg.). (2009). Jungenforschung – empirisch – Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur (S. 131-148. Wiesbaden: VS Fachverlag für Sozialwissenschaften. http://www.margritstamm.ch/dokumente/online-publikationen/169-underachievement-von-jungen-2009/file.html
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