
Leer in Geist und Seele. Über die Bedeutung der Langeweile
Sich über Langeweile beklagen? Das ist in unserer Optimierungsgesellschaft ein No-Go. Es gibt so viele Ratgeber zur Frage, wie man sich organisieren kann, damit einem die Decke nicht auf den Kopf fällt.
Trotzdem ist Langeweile für manche eine Tatsache: die unangenehme Situation, in der die Zeit stehen bleibt, während man im Rätselheft blättert. Auch Kindern und ihren Eltern graut davor, ebenso vielen anderen Erwachsenen. Ein verregnetes Wochenende? Kaum auszuhalten. Ein Fussballspiel ohne Tore? Wie öde. Eine Berghütte ohne WLAN? Geht gar nicht.
Langeweile ist verbreiteter denn je
Doch Medien beruhigen. Netflix und Streamingdienste lassen solche Gefühle gar nicht mehr aufkommen. Zudem können wir rund um die Uhr digital shoppen, eine Pizza bestellen oder am Bancomat Geld abheben. Und besonders verlässlich ist der Griff in die Tasche. Das Handy wartet dort, ist zuverlässig und wird nie müde – ausser der Akku ist leer.
Die Forschung berichtet anderes. Gemäss repräsentativen Studien hat die Langeweile zwischen 2008 und 2024 in allen Alterskategorien deutlich zugenommen. Die reizlos verstreichende Zeit kann somit nicht einfach abgetischt werden.
Was ist Langeweile? Sie wird als das unangenehme Gefühl bezeichnet, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können. Also wandern Geist und Seele weg. In der Fachliteratur gilt sie als Phänomen, das sowohl in Familie und Schule, am Arbeitsplatz wie auch in den Peergroups auftaucht. Doch gewisse Menschen sind dafür prädestinierter als andere. So tendieren Männer eher zu Langeweile als Frauen, Jugendliche und Erwachsene eher als Kinder und Extravertierte mehr als Introvertierte.
Zwei Arten von Langeweile: Boredom und Minderleister
Zwei Arten von Langeweile finden sich in Beruf und Schule, die jedoch kaum zur Kenntnis genommen werden. Erstens ist es das so genannte berufliche Boreout aus Unterforderung. Der Begriff kommt vom englischen Wort Boredom und steht für Langeweile im Kontrast zum allgegenwärtigen Burnout. Wer ein Burnout hat, ist vermindert leistungsfähig und fühlt sich erschöpft, leer und ausgebrannt. Boreouts hingegen drehen Däumchen aus Langeweile, eignen sich aber Strategien an, um besonders beschäftigt zu wirken. Im Gegensatz zum Burnout wird Boreout tabuisiert oder als Faulheit abgetan. Kaum jemand darf dazu stehen, unterfordert zu sein und deshalb eine ruhige Kugel zu schieben.
Ein ähnliches Phänomen sind die schulischen Minderleister. Oft sind sie überdurchschnittlich intelligent, haben aber lediglich durchschnittliche Noten und langweilen sich im Unterricht. In einer unserer Längsschnittstudien berichteten sie von drei Bereichen, die sie für ihre Langeweile verantwortlich machten: kein selbstgesteuertes Lernen, wenig herausfordernder Unterricht, zu viele Wiederholungen.
Handys, Langeweile und Friedrich Nietzsche
Doch zurück zur alltäglichen Langeweile. Eine neue Studie aus Kanada belegt, dass die Nutzung der Mobiltelefone die Langeweile erhöht. Um sich von diesem Gefühl abzulenken, wischen die «homini digitalis» pausenlos durchs Internet. Wie Getriebene checken sie das Handy, scrollen und scrollen, um die Ereignisarmut des Alltags in einer Flut an Whatsapp-Nachrichten zu ertränken und von einer TikTok-Story zur nächsten zu swipen. In Wartezimmern, Zügen und Restaurants, überall ist diese Spezies präsent. Sie starrt auf ihre Geräte und ignoriert die Umwelt. Doch eigentlich sind sie eher Getriebene der Digitalkonzerne. Diese haben den Kampf gegen die Langeweile auf die Spitze getrieben und lassen heute keine Kontemplation mehr zu.
Was wäre, wenn wir uns mehr auf die positiven Seiten des Nichtstuns und der Reizarmut konzentrieren würden? Langeweile kann auch zur Entwicklung von Kreativität und Neugier beitragen. Friedrich Nietzsche hat Langeweile als «Windstille der Seele» bezeichnet. Das legitimiert die oft gehörte Forderung nach mehr Digital Detox. Gemeint ist damit der bewusste und zeitlich beschränkte Verzicht auf digitale Geräte – nicht nur der jungen, sondern auch der älteren Generation, um sich zwischendurch aufs Wesentliche zu besinnen und die Langeweile bewusst zu pflegen. Ein solches Verhalten wäre ein wichtiges Thema für die oft unzureichend definierte Medienkompetenz.
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