Lieber ins Büro als auf den Bau - Das Verhältnis von Berufswahl und Prestige

Erschienen in: NZZ, 16.12., 2023, 21.


«Wenn du nicht mehr für die Schule tust, landest du genau dort, wo dieser Mann steht, hinter der Theke und nicht im Gymnasium.» Diese Drohung einer Mama gegenüber ihrem Sohn in einer Metzgerei wurde auf X (ehemals Twitter) hundertfach geteilt und mit viel Empörung kommentiert. Der Tenor war jeweils der gleiche. Wenn diese ehrgeizigen Eltern nicht wären, die nur das Gymnasium im Blick haben, könnte die Berufsbildung ihre Ausbildungsplätze besser besetzen.

Doch so einfach ist das nicht. Zwar gilt das Gymnasium oft als Königsweg und die Berufslehre als zweite Wahl. Aber auch wenn sich Familien und ihr Nachwuchs für eine Berufslehre entscheiden, geht es selektiv zu und her. In der Regel nehmen sie gerade mal vier bis fünf Berufe der etwa 230 zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in den Blick. Verständlich, hört man oft. Im Wirrwarr der vielen Optionen braucht es eine Komplexitätsreduktion. Allerdings ist der Hauptgrund eher ein anderer. In Frage kommen vor allem Berufslehren mit dem höchsten Prestige.

Das angeschlagene Image des Handwerks

Eltern sind die heimlichen Meinungsmacher. Sie haben gelernt, dass die Ausbildungswahl der Kinder so etwas wie eine Visitenkarte für das ist, was sie selbst aus ihnen machen. Darum ist der Vergleich mit dem sozialen Nachbarn so wichtig. Der Soziologe Georg Simmel meint damit Freunde, Arbeitskollegen, Verwandte oder eben Nachbarn im gleichen Quartier mit einem ähnlichen Status, die als Massstab dienen. Auch an Apéros geht es ja meist relativ schnell um die Frage, was denn der Nachwuchs «beruflich so macht». Die Antworten dienen dann als Filter, wie man vom Gegenüber taxiert wird. Ausbildungen und Berufe sind mehr denn je Definitionsräume sozialer Identität. Deshalb ist die Orientierung am Gegenüber so ausgeprägt. Kommt das Gymnasium wegen den Leistungen nicht in Frage, fühlen sich manche Väter und Mütter zumindest verpflichtet, dem Kind den Weg in einen sozial anerkannten Beruf zu ermöglichen – auch wenn er vielleicht seinen Fähigkeiten und Interessen nicht entspricht. Macht der Sohn der Arbeitskollegin eine prestigeträchtige Berufslehre als Kaufmann, geraten Eltern schnell in ein vergleichendes Grübeln, wenn der eigene Filius Maurer werden möchte und sie damit einverstanden wären.

Das Image des Handwerks ist angeschlagen. Je mehr ein Beruf mit Kraft und Körperarbeit verbunden ist, desto tiefer sein Status. Im Vergleich zu einer Arbeit auf dem Bau gilt Kopfarbeit als höherwertig. Schwielige Hände für das eigene Kind sind deshalb eher unerwünscht. Dies hat auch mit der Höherentwicklung des Bildungswesens zu tun. Die Statistik belegt, dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Hochschulabschlüsse von zehn auf mehr als 40 Prozent gestiegen sind, während die Berufslehre als höchster Abschluss von 52 auf 36 Prozent gesunken ist. Auch die Bildungspolitik konzentriert sich zunehmend auf die Akademisierung der Bildungsgänge und postuliert die Berufsmatura inklusive Fachhochschule als besonders zukunftsträchtig. Wenn schon eine Berufslehre – so die Überlegungen vieler Elternhäuser – dann muss es die sein, die nicht nur am meisten Ansehen generiert, sondern ebenso ein weiterführendes Studium ermöglicht: etwa KV, Informatik, Pharma oder Mediamatik. Seit Jahren sind die beliebtesten Berufe immer die gleichen geblieben.

Die grosse Bedeutung der sozialen Anerkennung 

Was zählt eigentlich für Jugendliche selbst? In erster Linie ist es die soziale Anerkennung der Gleichaltrigen und deutlich seltener die Berufsorientierung in der Schule. Bereits am Ende der Primarschule stehen die Akzeptanz des Umfelds und Gefühle des Dazugehörens im Mittelpunkt der Identitätsentwicklung. Ausbildungen werden nun nach Geschlechtstypik und Prestigeniveau kategorisiert. Auch wenn Heranwachsende die Präferenzen der Eltern übernehmen möchten, wird die Anerkennung durch Gleichaltrige immer wichtiger.

Der Zeitgeist bringt Faktoren ins Spiel, die das Berufswahlverhalten massiv verändern. Seit der Pandemie führen soziale Medien Jugendliche dazu – etwa TikTok und Instagram – ständig den Eindruck auf andere User zu optimieren uns die Wirkungen zu steuern. Wer beispielsweise im Rahmen des Hypes um den Film «Der Bestatter» diesen Beruf erlernen will, das auf Social Media kund tut und nur positive Rückmeldungen bekommt, sieht sich in der beruflichen Identifikation bestätigt. Doch gibt eine junge Frau an, Strassenbauerin werden zu wollen, darin aber nicht unterstützt oder sogar diffamiert wird, dürfte sie diesen Wunsch fallen lassen.

Das Prestige des Berufes ist wichtiger als das eigene Interesse

Die soziale Anerkennung dominiert zunehmend Berufsorientierung und Berufswahl. Viele Jugendliche nehmen deshalb auch dann Ausbildungsberufe mit einem besonderen Prestige in den Blick, wenn die ursprünglich angestrebte Ausbildung den persönlichen Interessen und Fähigkeiten eigentlich entsprechen würde. Diese enge, durch Social Media dominierte Perspektive hat zur Folge, dass Ausbildungsplätze in wenig prestigeträchtigen Berufen unbesetzt bleiben. Im Gegenzug führt die Konkurrenz um attraktive und imagebesetzte Berufe dazu, dass Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden. Deswegen weichen sie oft auf eine Fachmittelschule oder ein zehntes Schuljahr aus.

Dieser Problematik ist entgegenzuhalten, die Berufsorientierung setze ja im Lehrplan 21 bereits in der siebten Klasse an und junge Menschen hätten somit ein gutes Fundament für eine geschlechtsneutralere und objektivere Ausbildungswahl. Tatsächlich sind in den letzten Jahren viele Projekte entstanden und Massnahmenkataloge entworfen worden. Doch zwei Hürden stehen dieser Entwicklung entgegen. Bezogen auf Geschlechtstypik und Prestigeniveau gräbt sich das Berufsimage mancher Heranwachsender bereits beim Übertritt in die Oberstufe in die Köpfe ein. Zweitens lehnen Jugendliche gemäss einer Studie des Deutschen Instituts für Berufsbildung Vorschläge im Rahmen der Berufsorientierung eher ab – auch wenn sie auf der Basis von Berufswahltests abgegeben werden und auf an sich richtigen Diagnosen beruhen. Dieser Befund dürfte für die Praxis der Berufsberatungen eine Herausforderung sein. Denn offenbar entsprechen die Berufsvorschläge oft nicht dem, was Jugendliche mit Image und sozialer Anerkennung verbinden. Darum halten sie an ihrem Tunnelblick fest.

Was tun? Berufsleute kennenlernen, die unbekannte und unbeliebte Berufe ausüben

Was tun gegen den Trend, lieber eine Ausbildung im Büro statt auf dem Bau zu absolvieren? Einfach hinnehmen und das Beste daraus machen? Oder auf eine neue Welle des Überflusses an Lernenden hoffen, wie dies schon vor zwanzig Jahren der Fall war? Nein, im Kern geht es darum, den Social Media gesteuerten Drang nach sozialer Anerkennung zu berücksichtigen. Berufsberatungen, Schulen und Betriebe tun deshalb gut daran, sich stärker mit Anerkennungsbedürfnissen auseinanderzusetzen. Bislang finden sie in Berufsorientierungs- und Berufsberatungsangeboten noch wenig Berücksichtigung.

Konkret bedeutet dies, mehr Gelegenheiten zu schaffen, unbeliebte und unbekannte Berufe früh schon kennenlernen zu können in Begegnungen mit Menschen, die diese Berufe gewählt haben, sie heute noch ausüben und darin erfolgreich sind. Beispielsweise solche, die an den SwissSkills, den Schweizer Berufsmeisterschaften, besonders erfolgreich waren. Was bedeutet für sie soziale Anerkennung? Was ist für sie besonders wichtig? Und warum sind für mich solche Berufe bisher nicht in Frage gekommen? Diskussionen mit solchen Ambassadorinnen und Ambassadoren, wie sie bei SwissSkills genannt werden, können wichtige Impulse für eine objektivere Berufswahlentscheidung liefern.

Wäre dem so, hätte die Mama im einführenden Beispiel vielleicht anders reagiert und dem Sohn zumindest eine positive Option jenseits des Gymnasium ermöglicht, etwa so: «Du könntest zwar deutlich mehr für die Schule tun. Doch dieser Metzger hinter der Theke macht mir Eindruck. Ich finde es toll, wie er uns gut beraten hat und sich in der Materie auskennt.» 

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Kommentare 1

Gäste - Stephan (website) am Samstag, 02. März 2024 15:50

Dieser Artikel bietet tiefe Einblicke in die Komplexität der Berufswahl und das damit verbundene Prestigedenken. Es ist faszinierend, wie stark soziale Anerkennung und das Streben nach Prestige die Entscheidungen junger Menschen beeinflussen. Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass Berufe im Handwerk und andere weniger prestigeträchtige Berufe wieder mehr Wertschätzung erfahren?

Dieser Artikel bietet tiefe Einblicke in die Komplexität der Berufswahl und das damit verbundene Prestigedenken. Es ist faszinierend, wie stark soziale Anerkennung und das Streben nach Prestige die Entscheidungen junger Menschen beeinflussen. Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass Berufe im Handwerk und andere weniger prestigeträchtige Berufe wieder mehr Wertschätzung erfahren?
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