Mach unbedingt das Gymi!


«Mach unbedingt das Gymi!» Diese Aufforderung mancher Elternhäuser hat heute für die Kinder fast Weisungscharakter bekommen. Doch später räumen nicht wenige Eltern ein, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, weil sie Sohn oder Tochter nicht für eine Berufslehre animiert hatten. Liegt die Ursache des Trends zum Gymnasium somit bei den Eltern? Man liest ja oft in den Medien, dass es überehrgeizige Mamas und Papas seien, welche ihre Kinder ins Gymnasium pushen anstatt ihre Sprösslinge für eine Berufslehre zu motivieren. Doch die Sache ist komplizierter.

Diese Etikettierung muss relativiert werden. Bildungssystem und Zeitgeist sind wichtige Parameter, die das Verhalten von Vätern und Müttern stark beeinflussen. Zudem spielt das Herkunftsmilieu eine bedeutende Rolle. In der Regel sind gut situierte Väter und Mütter deutlich anspruchsvoller als solche aus einfachen Sozialschichten. Manchmal trifft dies für Migrantenfamilien nicht zu*.

Optimierung statt Schicksal

Viele gut gebildete Väter und Mütter praktizieren das, was die Bildungspolitik seit gut zwei Jahrzehnten von ihnen erwartet: eine bildungsbeflissene Elternschaft. In mancher Broschüre tönt dies etwa so: Liebe Eltern, unterstützt und fördert eure Kinder, damit sie ihr Potenzial entwickeln können. Die Kinder sind eure Zukunft! Und wenn ihr sie nicht fördert, seid ihr selber schuld.

Solche Erwartungen und Botschaften haben dazu geführt, dass sich viele Elternhäuser kontinuierlich darum bemühen, den Nachwuchs von Anfang an im Vergleich zu anderen Kindern mit mindestens gleichen oder besseren Chancen auszurüsten. Man zieht in gut situierte Quartiere und schickt die Kinder in milieuhomogene Schulen. «Ansteckungsangst» nennt dies der Bildungssoziologe Heinz Bude**. Ergänzt wird sie heute durch das Optimierungsstreben.

Optimierung hat das Schicksal abgelöst, das nicht Perfekte wird kaum mehr toleriert. Das ist keine Weisheit, die Eltern erfunden haben, sondern ein Imperativ unserer Gesellschaft. Dass Mütter und Väter diesem Imperativ folgen und die Optimierung schulischer Leistungen im Blick haben, ist darum nicht erstaunlich. Eltern werden heute für alles verantwortlich gemacht. «Elterndeterminismus» ist der wissenschaftliche Begriff dafür***. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass die Leistungsfähigkeit des Kindes und die Fähigkeit seiner Eltern, gute Eltern zu sein, unmittelbar kausal verknüpft sind. Zeigen sich Probleme in der kindlichen Entwicklung, sind Väter – und vor allem Mütter – schuld. Ist ein Kind hingegen hochleistungsfähig, gilt dies als Verdienst der Eltern und als Ausweis ihrer Kompetenz. Wer somit das Risiko verpasster Chancen in Kauf nimmt und auch dann nicht aktiv wird, wenn sich der Schulerfolg nicht wie erwartet einstellt, muss die Schuld bei sich selbst suchen (Stamm, 2022****).

Bildungssystem und Wettbewerbsorientierung als Katalysatoren des Elternehrgeizes

Weil das Bildungssystem ein Abbild der Hochleistungsgesellschaft geworden ist, werden Eltern schon im Kindergarten mit ihr konfrontiert. So liegen Elterngesprächen vielerorts umfassende Standortbestimmungen mit standardisierten Beurteilungspunkten zugrunde. Solche Kompetenzraster sind gut gemeint. Denn Bildungsverantwortliche unterstreichen in bester Absicht, solche Raster seien allein für die individuelle Entwicklungsförderung der Kinder vorgesehen. Trotzdem kommt diese Massnahme bei vielen Eltern als Vermessung des Kindes an, gefolgt von der Frage: Ist unsere Kleine gut genug? Oder sind die anderen besser, und müssen wir deshalb noch mehr mit ihr arbeiten? Dass sich Eltern heute bereits im Kindergarten für den Erfolg ihrer Sprösslinge verantwortlich fühlen und sich noch mehr darauf konzentrieren, das Beste aus ihnen herauszuholen, ist eine wesentliche Folge dieser Beurteilungskultur – genannt «Elterndeterminismus».

Tests und Checks sind ebenso wichtige Bestandteile der Wettbewerbskultur. Die Flut solcher Massnahmen schafft einen Konkurrenzdruck, der sich nicht nur negativ auf Schülerinnen und Schüler auswirkt, sondern zunehmend auch auf Eltern und Lehrpersonen. Seit der Veröffentlichung der letzten PISA-Ergebnisse steigt die Kritik, wonach die auf Tests bezogene Schulkultur Noten und Testleistungen mehr gewichten würde als das Lernen. Dazu gehört auch das Positionspapier des LCH*****,

Eltern als Strategen

Solche Entwicklungen haben einen grundlegenden Einfluss darauf, weshalb die Wahl von Gymnasium respektive Berufslehre weniger nach Neigung und Interessen als nach familiären Interessen und Überzeugungen erfolgt. Doch es ist falsch, hierfür ausschliesslich die Familie verantwortlich zu machen. Die Mehrheit der bildungsbeflissenen Elternhäuser begleitet und kontrolliert den Aufwachsprozess vor allem deshalb, weil die Botschaften von Bildungspolitik und Bildungssystem den höchsten Abschluss als den besten propagiert. Darum gilt der gymnasiale Weg als der anzustrebende. Dies hat Auswirkungen. Manche Eltern entscheiden sich heute bereits in den ersten Schuljahren, was aus ihrem Kind werden soll. Für gut situierte Familien ist es das Gymnasium, für einfach gestellte Elternhäuser die Berufslehre. Manchmal bleibt die realistische Beurteilung der Fähigkeiten und Interessen des eigenen Kindes auf der Strecke. Dass der Sohn eigentlich schulmüde ist oder die Tochter eher handwerkliche Talente hätte, wird ausgeblendet und damit auch, dass der berufliche Ausbildungsweg besser zu deren Profil passen würde als eine akademische Laufbahn.

Die Berufslehre als zweite Wahl

In akademisch orientierten Elternhäusern gilt die Berufslehre oft als zweite Wahl, manchmal sogar als Sackgassenausbildung. Auch wenn manche von ihnen die Berufsbildung als «top» bezeichnen und ihr «internationale Wettbewerbsfähigkeit» attestieren, entscheiden sie sich dann für ihr Kind trotzdem gegen eine Berufslehre und fürs Gymnasium. Einer der Gründe dürfte darin liegen, dass manche Väter und Mütter (manchmal auch Lehrkräfte) die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems (die im internationalen Vergleich einmalig ist) nur rudimentär kennen. Eine solche Unkenntnis ist in allen Sozialschichten festzustellen, Ausgeblendet bleibt deshalb, dass junge Menschen bei weitem nicht ausschliesslich nach der Berufslehre eine Fachhochschule anstreben müssen. Die Höhere Berufsbildung (HBB) bietet genauso beste Möglichkeiten, um aufzusteigen respektive eine gezielte Karriere anzustreben. Ein Beispiel: Wird der Sohn einer Geisteswissenschaftlerin Maurer, absolviert er eine höhere Berufsbildung als Bauleiter und macht sich selbständig, hat er beste Chancen, seine Mutter einkommens- und karrieremässig zu überholen

Fazit

Geht es um Potenziale von jungen Menschen, sind nicht lediglich Mama und Papa die ehrgeizigen Schuldigen, welche ihre Kinder überschätzen, sie ins Gymnasium pushen und die Berufslehre links liegen lassen. Diese Mainstream-Überzeugung ist zu einfach.

Das Bildungssystem spielt eine ebenso bedeutsame Rolle. Als Abbild der Hochleistungsgesellschaft verstärkt es die Konkurrenzorientierung zwischen Familien und ihre Konzentration auf die Leistung als Produkt: die Noten. Dass sie deshalb ihre Antennen dauernd ausgefahren haben ist eine logische Reaktion auf solche Trends.

Literatur

*Stamm, M., Leumann, S. & Kost, J. (2014). Erfolgreiche Migranten in der Berufsbildung. Erfolgreiche Migranten. Ihr Ausbildungs- und Berufserfolg im Schweizer Berufsbildungssystem. Münster: Waxmann.

**Bude, H. (2011). Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Hanser.

***Furedi, F. (2004). Die Elternparanoia. Warum Kinder mutige Eltern brauchen. München: dtv.

****Stamm, M. (2022). Angepasst, strebsam, unglücklich: Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder. München: Kösel.

*****https://www.lch.ch/fileadmin/files_transfer/documents/Positionspapiere/120428_Positionspapier_Leistungsmessung_Tests.pdf 

S'Grosi als "Es"
Was sollen Mütter tun und lassen?
 

Kommentare 1

Gäste - Anonym am Montag, 04. Dezember 2023 21:15

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