
Smartphone-Kindheiten
erschienen in der Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz am 03. resp. 04.03.2025 (meist unter dem Titel: "Für selbstsichere Kinder ist das Handy kein Problem")
(Mein ursprünglicher Titel war: Smartphone -Kindheiten: Wo liegt das Problem? Die Redaktion hat den Titel vorgeschlagen: Für selbstsichere Kinder ist das Handy keine Gefahr)
Psychische Krisen von Heranwachsenden nehmen seit der Pandemie zu. Ängste und Depressionen sind bei Mädchen um 26 Prozent, bei jungen Männern um acht Prozent gestiegen. In der Jugendpsychiatrie beträgt die Wartefrist für eine Behandlung bis zu einem Jahr. Schuld daran sind die sozialen Medien. Das ist die Diagnose des US-Sozialpsychologen Jonathan Haidt. Sein Buch «Generation Angst» ist ein Bestseller geworden. Er setzt seine katastrophale Botschaft wirkungsvoll in Szene und belegt sie mit vielen Daten.
Der starre Blick aufs Handy und seine empirischen Folgen
Tatsächlich ist der negative Umgang mit dem Smartphone augenfällig, im Zug, im Bus, im Restaurant, auf dem Spielplatz. Überall das gleiche Bild: der starre Blick aufs Handy. Doch es war zu erwarten, dass Haidts Studie widerlegt wird. Die neue Analyse von Christopher Ferguson weist nach, dass es keine Belege für den negativen Einfluss sozialer Medien auf Heranwachsender gibt. Candice Odgers geht in der Fachzeitschrift «Nature» einen Schritt weiter. Sie schreibt, dass die massive Nutzung von Social-Media-Plattformen nicht die ursächliche Gefahr seien, sondern Folge psychischer Krisen. Gesunde Teenies seien weniger Smartphone-süchtig.
Können sich Elon Musk und Mark Zuckerberg somit freuen, dass die Haidt-Studie widerlegt wird? Kaum. Wenn es um brisante gesellschaftspolitische Themen geht, wird die Forschung für politische Zwecke vereinnahmt. Manchmal sind bereits die Fragestellungen normativ, so dass die Ergebnisse wie erwünscht pro oder contra ausfallen. Beispiele gibt es genug: die Integrationsfrage, die Bedeutung von Noten, die Wirksamkeit von Frühfranzösisch oder die Frage nach der Schädlichkeit von Kitas.
Das psychische Wohlbefinden Heranwachsender ist viel komplexer als behauptet
Geht es um die Diskussion der Hintergründe von Smartphone-Kindheiten ist die Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens junger Menschen viel komplexer als es die erwähnten Studien suggerieren. Zwei kaum diskutierte Aspekte möchte ich hervorheben: den überbehütenden Erziehungsstil sowie den dramatischen Rückgang des freien Spiels. Überbehütung ist eine Folge unserer Sicherheits- und Risikogesellschaft, welche die Freiheit der Heranwachsenden immer mehr einschränkt. Dieser Freiheitsverlust korreliert mit dem drastisch abnehmenden kindlichen Wohlbefinden. Zum einen werden Kinder vermehrt ausserfamiliär in Kursen beschäftigt. Das ist an sich eine gute Sache, doch weniger, wenn sie dauernd per Elterntaxi gefahren werden. Studien zeigen, dass Heranwachsende, die selbständig zur Schule laufen, Besorgungen erledigen, eine Sackgeld-Job nachgehen, nach und nach allein den öffentlichen Verkehr nutzen und dabei nicht dauernd via GPS getrackt werden, psychisch widerstandsfähiger und von Social Media weniger abhängig sind. Gleiches gilt für das freie Spiel draussen. Wer seinen Entdeckerdrang ohne Dauerkontrolle durch Erwachsene ausleben und manchmal mit Unterstützung auf einen kleinen Baum klettern darf, ist viel weniger anfällig für Phobien oder Ängste und baut mehr Selbstvertrauen auf. Dies ist wiederum die Grundlage, um mit dem Handy selbstverantwortlicher umgehen zu können.
Keine kulturpessimistische Verteuflung - aber Selbstdisziplin der Erwachsenen
Was ist zu tun und zu wessen Gunsten? Zunächst einmal gilt es ein Zeichen zu setzen gegen die kulturpessimistische Verteuflung von Social Media. Gut eingesetzt bieten sie tolle Möglichkeiten (Lernapps, Youtube-Erklärungsvideos, Möglichkeiten zur organisatorischen Interaktion, das Weltwissen in der Hosentasche haben etc.). Gleichzeitig gilt es, neuropsychologische Erkenntnisse ernstzunehmen. So verweist Lutz Jäncke auf den präfrontale Kortex bei Jugendlichen. In ihm reifen beispielsweise Konzentration, Selbstdisziplin oder Aufmerksamkeitskontrolle, aber in der Pubertät gleicht er einer Grossbaustelle. Deshalb sind Jugendliche noch kaum in der Lage, ihre Impulse zu kontrollieren.
Ist dies der Hauptgrund, Handys möglichst lange zu verbieten? Das ist nur die halbe Miete. Verbote bekämpfen Symptome, ermöglichen aber nicht den Erwerb von Medienkompetenz. Das Hauptproblem liegt bei den Erwachsenen selbst. Sie müssen dem Nachwuchs vorleben, wie man verantwortungsvoll mit einem Handy umgeht. Vorgelebte Selbstdisziplin ist der Begriff der Stunde. Der wichtigste Schritt wäre das Training von konsequent eingehaltenen digitalen Auszeiten («Digital Detox»). Gemeint sind auch Schulen, die klare Regeln erlassen und deren Lehrkräfte ebenfalls Selbstdisziplin üben.
Literatur
Haidt, J. (2024). Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Hamburg: Rowohlt.
Ferguson C. (2024). A response to Jonathan Haidt's response. https://matthewbjane.github.io/blog-posts/blog-post-7.html (02.09.2024).
Odgers, C. (2024). The grat rewiring. Is Social Media really behind an epidemic of teenage mental illness? Nature, 29.03.: https://internet.psych.wisc.edu/wp-content/uploads/532-Master/532-UnitPages/Unit-11/Odgers_Nature_2024.pdf
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