Scheitern dürfen kann auch wertvoll sein

Erschienen in : NZZ. 19.09.2022, 17 (Zweiter Teil).

Erstens hat das Potenzial in unserem Bildungssystem eine untergeordnete Bedeutung, auch wenn es in der Wirtschaft einer der am häufigsten verwendeten Begriffe ist. In der Bildungsforschung wissen wir viel über Defizite von Schulneulingen, über die mangelnde Ausbildungsreife von Berufslernenden oder die manchmal problematische Studierfähigkeit von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, aber kaum etwas über ihre Potenziale. Solche  verdeckten Fähigkeiten werden zu selten erwartet, wahrgenommen und wertgeschätzt. Darum muss das Bildungssystem seinen Blick neu ausrichten, weg von der Konzentration auf Defizite, hin zur Integration von Potenzialen. Doch ein solcher Blick entsteht nicht über Nacht. Und auch nicht dadurch, dass Begriffe wie Kompetenz oder Talent nun inflationär gebraucht werden, die herkömmlichen Selektionsmechanismen aber beibehalten und Einstellungsmuster gegenüber jungen Menschen nicht hinterfragt werden. Der Perspektivenwechsel muss in den Köpfen beginnen. Ohne ihn kann das grosszügigste Budget keine Wirksamkeit entfalten.

Noten sind kein unbestechliches Merkmal dessen, was Kinder können

Zweitens wissen wir schon lange, dass Noten Intelligenz vortäuschen, aber kein unbestechliches Merkmal für das sind, was ein Kind kann, sondern eher ein Produkt von Privilegien und Zufällen. Diese breit abgestützte Erkenntnis hat mit der fehlenden Chancengerechtigkeit zu tun. Im Vergleich zu privilegiert aufwachsenden Kindern haben solche aus einfach gestellten Familien beim Übertritt ins Gymnasium deutlich schlechtere Karten – auch bei gleichen Leistungen. Ihnen fehlen familiäre Förderressourcen sowie eine externe Lernunterstützung. Darum werden sie trotz intellektueller Begabung oft in eine Berufslehre abgelenkt, während Akademikerkinder das Gymnasium besuchen – auch wenn sie praktische Begabungen haben. Unserer Gesellschaft geht somit ein bemerkenswertes Reservoir an Potenzial begabter Jugendlicher sowohl für die Berufsbildung als auch fürs Gymnasium verloren. Würden Neigungen und Interessen den Ausbildungsweg bestimmen, wären in der Berufsbildung mehr Jugendliche aus akademischen Elternhäusern vertreten, in den Gymnasien mehr solche aus einfach gestellten Familien.

Drittens fehlt der Blick auf überfachliche Kompetenzen. Viele Indizien sprechen dafür, dass solche Skills – die WHO nennt sie Lebenskompetenzen, das Management Soft Skills oder Future Skills – für den Berufs- und Lebenserfolg genauso bedeutsam sind. Dies ist auch eine wichtige Aussage der Expertiseforschung. Sie liefert genug Hinweise, dass Hard Skills, beispielsweise Schulnoten oder Zertifikate, den Ausbildungs- und Berufserfolg nur ungenau voraussagen können. Es sind die Soft Skills, die entscheiden, ob Hard Skills in der Praxis wirksam werden können. Wenn Soft Skills somit alles andere als «soft» sind, ist es erstaunlich, dass sie in den meisten Aufnahmeverfahren ans Gymnasium oder in Rekrutierungsmassnahmen für die Berufslehre nach wie vor zweite Garnitur sind.

Faire Chancen für alle - und ebenso: Scheitern dürfen

Eine Gesellschaft, die sich zu Leistung bekennt, doch potenzialorientierter und chancengerechter werden will, muss viel mehr dafür tun, dass Kinder aus einfach gestellten Familien faire Chancen bei der Überwindung von Nachteilen und bei der Entdeckung von Potenzialen bekommen. Darum sind fachübergreifende Kompetenzen stärker zu gewichten. Eine solche Forderung setzen Schulen um, die Beziehungen stark gewichten, das Selbstvertrauen der Schülerinnen und Schüler entwickeln und herausfordernde Situationen schaffen, damit sie Durchsetzungsfähigkeit und Beharrlichkeit («grit») erproben und Frustrationstoleranz durch die Überwindung von Hindernissen einüben können. Doch allein kann es die Schule nicht richten. Die gleichen Förderprinzipien gelten für das Elternhaus. Mütter und Väter, die auch auf solche Kompetenzen setzen, stärken die Leistungsfähigkeit und Lebenstüchtigkeit ihrer Kinder. Damit geben sie ihnen ein solides Fundament für eine unsichere Zukunft und für mögliche Fehlschläge mit.

Scheitern dürfen – das ist mein vierter Punkt. Bücher wie die «Kunst des Scheiterns» sind im Management geläufig, in Schule und Ausbildung aber tabu. Der unbedingte Fokus auf den Bildungserfolg verhindert, die Chancen von Fehlschlägen zu erkennen. In unserer Optimierungsgesellschaft haben junge Menschen ein Recht, solche Erfahrungen zu machen. Nur so erkennen sie, dass ihnen etwas gegenübersteht, das Wirklichkeit heisst. Somit ist es ein Teil des Eltern- und Lehrerjobs, Misserfolge zuzulassen, aber junge Menschen im Glauben an sich selbst zu stärken.

Was bedeutet dies für die Schule der Leistungsgesellschaft? Die Bildungspolitik muss den traditionellen Tunnelblick auf Noten und möglichst viel Akademia überdenken und der Perspektive auf verdeckte Fähigkeiten und damit auf mehr Chancengerechtigkeit eine deutlich höhere Beachtung schenken. Fördert unser Ausbildungssystem zudem überfachliche Kompetenzen, werden junge Menschen besser auf die Unwägbarkeiten der Zukunft vorbereitet. Dafür braucht es politische Fachgremien und pädagogische Professionelle, die sich von der Überzeugung emanzipieren, Optimierung und Maximierung von Leistung sei das höchste Ziel von Bildung und Ausbildung.!

Welche Schule braucht der Mensch?
Frauen gehören nicht ins Autogewerbe, Männer nicht...
 

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