Wo sind die Handwerkerinnen und Handwerker geblieben?

Schon seit mehreren Jahren fehlen Fachkräfte in der Berufsbildung. Überdeutlich wird dies im Handwerk. Dabei stossen wir schnell auf zwei Aspekte, welche ursächlich damit zu tun haben dürften: erstens auf die Bedeutung des Trends zur Akademisierung, zweitens auf das Image, das junge Menschen einem Beruf zuschreiben und drittens auf die Hintergründe von Berufswechseln. Solche Aspekte möchte ich nachfolgend vertiefen. 

Wir wissen alle: Weil der Trend zu Fachmittelschulen und Gymnasien ungebrochen ist, stehen der Berufsbildung weniger ausbildungsstarke Jugendliche zur Verfügung. Um diese kleiner werdende Gruppe muss sie verstärkt kämpfen. Und dies gilt auch für den Verbleib im Beruf. Eine grosse Anzahl der Erwerbstätigen wird in den nächsten Jahren aus Altersgründen aus dem Berufsleben ausscheiden. Daraus resultiert eine Schere, die für viele Betriebe sowohl bei der Suche nach Lernenden als auch nach guten Fachkräften zum Problem wird.

Die Folgen des Akademisierungstrends

Der Akademisierungstrend führt zu immer höheren Bildungsniveaus. Wer Hebamme oder Kindergärtner werden will, braucht eine Matura. Viele internationale Unternehmen wollen nur noch Leute mit einem Hochschulabschluss einstellen. Zwar wird überall betont, man wolle jegliche Akademisierung vermeiden. Die Swissness unseres Bildungssystems ermögliche, dass jeder und jede über eine Berufslehre an einer Fachhochschule studieren und sogar an die ETH wechseln könne. Doch hinter dieser Argumentation steckt die paradoxe Botschaft, dass eine Laufbahn letztendlich doch in ein Studium münden sollte. Eine Polierin mit einer höheren Berufsbildung ist deshalb kaum der Rede wert. Der Optimierungsdruck durch ein FH-Studium dämpft deshalb die Entwicklung einer handwerklichen Berufsidentität.

Die Akademisierung zeigt sich überall, beispielsweise darin, dass seit dem Jahrtausendwechsel Hochschulabschlüsse von 10% auf 29% gestiegen sind, die Berufslehre als höchster Abschluss jedoch von 52% auf 36% gesunken ist. Dazu kommt ein gewisser «Bildungssnobismus» der OECD (2017). In einem ihrer Berichte wird eine familiäre Situation als «Bildungsabstieg» bezeichnet, wenn ein Akademikerpaar einen Sohn/eine Tochter hat, welche/r «nur» eine Berufslehre absolviert. Es versteht sich darum von selbst, dass in vielen Elternhäusern ein FH-Studium als Mass der Dinge und als Statussymbol gilt. Doch ist dies nicht nur ein Irrglaube, sondern ein Mythos. Wenn ein Sohn einer Geisteswissenschaftlerin Maurer wird, eine höhere Berufsbildung als Bauleiter absolviert und sich später selbständig macht, hat er beste Chancen, seine Mutter einkommens- und karrieremässig zu überholen.

Berufsimage, Berufsorientierung und Berufswechsel

Akademisierungstendenzen sind eine Ursache für die Tatsache, dass das Berufsimage eine ungünstige Entwicklung nimmt (Stamm, 2016; 2021). Je mehr ein Beruf mit Kraft, Körperarbeit und Routine in Verbindung gebracht wird, desto tiefer ist der soziale Status. Dies gilt auch für manche Berufswechsel. Weil junge Menschen auch nach Abschluss der Berufslehre soziale Anerkennung suchen, ist es ihnen wichtig, was die anderen (Freunde, Nachbarn, Berufskolleginnen und -kollegen, Familie und Verwandte, Peers in den sozialen Medien) über sie denken. Deshalb wechseln sie oft in Berufe ohne schwielige und dreckige Hände.

Allerdings ist es grundsätzlich falsch, den Mangel an Handwerkerinnen und Handwerkern ausschliesslich in der nachberuflichen Situation zu verorten. Das Problem beginnt bereits bei der beruflichen Orientierung. Dabei hat es nur am Rande etwas mit den Bemühungen der Lehrkräfte zu tun, sondern mehr mit den Jugendlichen selbst und der verbreiteten Scheuklappenperspektive ihrer Eltern. Gemeint ist damit, dass die hohe Belastung der Lehrstellensuche dazu führt, dass Jugendliche zusammen mit ihren Vätern und Müttern die in Möglichkeit kommenden Berufe auf durchschnittlich etwa vier Berufe einschränken – eben auf diese mit dem grössten Image-Faktor (Neuenschwander, 2013).

Oft wird auch argumentiert, man könne in kurzer Zeit pragmatische Lösungen finden und die Attraktivität von Berufen über eine Veränderung von Berufsbezeichnungen erhöhen (z.B. Drechsler/in -> Holzhandwerker/in EFZ / Drechslerei; Verkäufer/in -> Detailhandelsfachmann-/-fachfrau EFZ / Bewirtschaftung oder Beratung resp. Verkaufshelfer/in -> Detailhandelsassistent/in EB). Obwohl Betriebe nach solchen Umbenennungen teilweise die Erfahrung machen, dass sich die Bewerberanzahl erhöht, zeigt sich genauso, dass eine lediglich auf Sprachkosmetik angelegte Veränderung als Mogelpackung verstanden werden kann. Dies spricht sich unter jungen Menschen rasch herum und kann auch gegenteilige Folgen haben. Beispielsweise dann, wenn Auszubildende am Anfang der Ausbildung feststellen, dass die Inhalte trotz verheissungsvollem Titel nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.

Wie gelingt ein positiverer Blick auf das Handwerk?

Grundlegend wäre, dass Betriebe weniger klagen und die Schwierigkeiten eher als Herausforderungen verstehen. Klagen haben in Zeiten des Mangels an Handwerkerinnen und Handwerkern keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufe. Man kann nicht dauernd für sich selbst werben, gleichzeitig jedoch vor allem das Negative betonen. Die Berufsbildung wird deshalb nicht darum herumkommen, ihre Defizitorientierung durch eine Kultur des positiven Blicks zu ersetzen. Diese Kultur, welche genauso für die Bildungspolitik gilt, beinhaltet drei Aspekte:

Betriebe, ihr Klima und ihre «Haltekraft»: Eine Studie der ETH Zürich (Medici et al., 2020) zeigt, dass sich die Zufriedenheit mit dem Ausbildungsberuf bis zu 10 Jahre nach Abschluss auf einen Berufswechsel auswirkt. Wer am Ende der Ausbildung zufriedener ist, wechselt seltener den Beruf. Arbeitsbedingungen wie Arbeitsvielfalt, Autonomie, Arbeitsbelastung und Karriereaussichten inklusive Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren. Der Lohn spielt zwar eine Rolle, aber nicht die wichtigste.

Daraus folgt, dass vor allem auf die Haltekraft des Betriebes, auf ein wertschätzendes Klima gesetzt werden muss, Aus- und Weiterbildungsangebote berufsbegleitend nutzbar gemacht werden sollten und die lebenslange Beschäftigungsfähigkeit anhand solcher Erfolgsfaktoren anzustreben ist.

Generation Z und Berufswechsel: Im Blickpunkt steht auch die Generation Z (nach 1997 Geborene). Mit dieser Generation betreten junge Menschen den Arbeitsmarkt, die andere Werte und Erwartungen haben als ihre Vorgängergenerationen. Nicht nur die Verbindung von Berufs-, Familien- und Privatleben wird für sie immer wichtiger, sondern sie sehen auch im Berufswechsel eine Chance, ihre Fähigkeiten zu vermarkten.

Berufswechsel werden deshalb zum neuen Faktum der Generation Z. Das bedeutet für viele Berufe – nicht nur für das Handwerk – Quereinsteigerangebote mit Nachqualifizierungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Weniger auf Akademisierung setzen: Unsere Gesellschaft ist auf professionelle Handwerkerinnen und Handwerker angewiesen. Gerade weil die Generation Z Arbeitsvielfalt und Autonomie so betont, muss die höhere Berufsbildung ebenso prominent empfohlen werden wie die Fachhochschulen. Handwerkerinnen und Handwerker sollten Möglichkeiten bekommen, während eines Teil des Berufsalltags trotzdem dem Handwerk treu zu bleiben – auch wenn sie sich in der höheren Berufsbildung weiterqualifiziert haben.

Eine zukunftsträchtige Ausbildung hat viele Facetten. Sie heisst nicht nur Akademia, denn gute Handwerkerinnen haben goldene Hände und kluge Köpfe!

Literatur

OECD (2017). Bildung auf einen Blick. OECD-Indikatoren. Gütersloh: Bertelsmann.

Neuenschwander, M. P. (2013). Selektion beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Ar­beitsmarkt im Vergleich. In M. P. Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule und Arbeitsmarkt (S. 63-97). Zürich/Chur: Rüegger.

Medici, G., Tschopp, C., Grote, G., Igic, I. & Hirschi, A. (2020). Zwingt Automatisierung zum Berufswechsel? Die Volkswirtschaft, 10/2020, 40–42. https://dievolkswirtschaft.ch/de/2020/09/zwingt-automatisierung-zum-berufswechsel/

Stamm, M. (2016). Goldene Hände. Praktische Intelligenz als Chance für die Berufsbildung. Bern: hep.

Stamm, M. (2021). Gymnasien und Berufsbildung: Ihre genutzten und ungenutzten Potenziale. Dossier 21/2. Aarau: Forschungsinstitut Swiss Education. https://margritstamm.ch/dokumente/dossiers/278-gymnasien-und-berufsbildung-ihre-genutzten-und-ungenutzten-potenziale/file.html 

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