Begabtenförderung für die Privilegierten. Weshalb Förderprogramme oft ungerecht sind
Seit fast zehn Jahren wird nun schon Kritik laut, dass Begabtenförderprogramme vor allem Kinder aus bildungsambitionierten Familien bedienen. Typischerweise handelt es sich um Schweizer Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, um ausländische Kinder von Expats und vielleicht noch um Migrantenkinder aus gebildeten Familien. Kinder aus anderen Bevölkerungsschichten – Arbeiterkinder, benachteiligte Migrantenkinder oder Kinder aus «Risikofamilien» sind stark untervertreten. Und Gleiches gilt an den Hochschulen: Stipendiengelder bekommen vor allem Kinder aus gut situierten Akademikerfamilien, währendem solche aus einkommens- und bildungsschwachen Haushalten deutlich seltener solche erhalten*.
Was steckt hinter dieser grossen Ungerechtigkeit? Zunächst einmal die verbreiteten Vorurteile. Viele sind überzeugt, dass ein höherer Bildungsgrad der Eltern für eine bessere genetische Ausstattung verantwortlich sei. Wer in Zürich im Kreis 5 unterrichte, in Bern-Bethlehem oder im Tscharnergut, könne – leider – gar keine Begabtenförderung betreiben, weil es dort keine begabten Kinder geben könne. Wie falsch ist diese Überzeugung und wie nachhaltig ist sie! Es gibt in allen Kulturen und in jeder Bevölkerungsschicht begabte Kinder. Wenn man jedoch keine Begabungen erwartet, sucht man sie nicht und findet entsprechend auch keine.
Begabungen von benachteiligten Kindern werden systematisch geleugnet oder nicht beachtet und übersehen. Dieser Zustand widerspricht nicht nur unserem viel gerühmten demokratischen Bildungssystem, sondern er verstärkt den bereits bestehenden Graben zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern. Denn erstere sind von zu Hause aus mit den bestmöglichen Ressourcen ausgestattet, während für letztere das Gegenteil gilt und sie gerade deshalb jegliche Förderung dringend brauchen würden.
Um solche Diskrepanzen zu korrigieren, müsste man an den Wurzeln des Systems ansetzen. Aber mit Sicherheit nicht dort, wo dies von der Politik schon gefordert worden ist: dass man Begabtenförderprogramme generell abschaffen solle, wenn sie derart ungerecht seien und nur den Privilegierten dienen würden. Das wäre eine vollkommen falsche Strategie, weil gerade in unserer Demokratie auch privilegierte begabte Kinder das Anrecht haben, gefördert zu werden und weil Begabtenförderprogrammen ein grosses Potenzial innewohnt, besser und gerechter werden zu können.
Wo liegen die Gründe für die Untervertretung von benachteiligten Kindern in Begabtenförderprogrammen? Folgt man den einschlägigen Forschungserkenntnissen, dann sind es vier Bereiche:
(1) Die Tatsache, dass Begabung traditionellerweise als der Mittel- und Oberschicht zugehörig betrachtet wird. Begabtenförderprogramme basieren deshalb auf ungleichen Selektionschancen. Diese wiederum führen zur Unterrepräsentation von Minderheiten.
(2) Die Problematik der Identifikation: Intelligenztests sind auf der Basis unserer abendländischen Kultur entwickelt worden und kaum auf ökonomisch, sozial oder kulturell benachteiligten Schülerinnen und Schülern ausgerichtet. Obwohl es inzwischen «kulturfaire» Intelligenztests gibt – d.h. Verfahren, die von spezifischen kulturellen Einflüssen weitgehend unabhängig sind und Angehörige anderer Gruppen nicht benachteiligen – haben sie bisher nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt.
(3) Die Einstellungsmuster und Werthaltungen von Lehrkräften: Lehrpersonen empfehlen Kinder für die Aufnahme in Begabtenförderprogramme selektiv. Empfehlungsgrundlage ist oft ihre vorangehend bereits erwähnte Überzeugung, Kinder aus bestimmten Kulturen seien grundsätzlich weniger intelligent, weshalb es kaum talentierte Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Milieus gäbe. Die Legitimation für solche Überzeugungsmuster finden sie dabei meist in der mangelnden Beherrschung der deutschen Sprache.
(4) Die familiären Merkmale: Nicht selten stehen Schulen unter Druck von besonders bildungsambitionierten Eltern. Haben sie ihr Kind abklären lassen und mittels eines Gutachtens oder einer Potenzialanalyse die Trenddiagnose «Hochbegabung» erhalten (Kraus, 2013), dann nutzen sie diese, um dem Nachwuchs Vorteile zu verschaffen. Oft hat dies zur Folge, dass Schulen solchen Druckversuchen entsprechen und das betreffende Kind einem Begabtenförderprogramm zuweisen, insbesondere dann, wenn Eltern mit juristischen Verfahren drohen.
Was wäre zu tun? Grundsätzlich müsste der Zugang zu Begabtenförderprogrammen so angelegt werden, dass die soziale Gleichheit in den Zugangschancen gewährleistet ist. Die aktuell angewendeten Auswahlverfahren sind zu überdenken, weil sie begabte Kinder aus einfachen Verhältnissen benachteiligen. Zudem braucht es Einstellungsveränderungen von Lehrkräften. Zwar ist das Bewusstsein gewachsen, dass eine der zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft eine möglichst optimale Förderung aller Kinder und Jugendlicher, ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft, beinhaltet. Aber Lehrkräfte müssten ihre Vorstellung überwinden, dass der Umgang mit Heterogenität auch beinhaltet, begabte benachteiligte Kinder zu suchen, zu finden und dann auch zu fördern.
Notwendig sind somit eine Schärfung der Wahrnehmungspraxis, eine Änderung der Alltagsvorstellungen, wonach Talent ein angeborenes Merkmal einer gehobenen Bevölkerungsschicht sei und vor allem eine stärkere Motivation, mehr für die soziale Gerechtigkeit bei der Förderung der Begabtesten zu sorgen.
* Stamm, M. (2010j). Begabte Minoritäten. Eine Black Box unseres Bildungssystems und wie sie geknackt werden könnte. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 4, 339-356.
**Kraus, J. (2013).
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