Die Gesellschaft will perfekte Eltern!
Warum bekommt man heute Kinder? Um dem Leben einen Sinn zu geben, um Liebe zu schenken und sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen. So antwortet zumindest in unseren Forschungsstudien ein Großteil der Eltern oder solche, die es werden wollen. Elternliebe gilt als einmalig und unvergleichlich. Auch der Schriftsteller Jean Paul hat einmal gesagt, mit einer Kindheit voll Liebe könne man ein halbes Leben lang in der kalten Welt auskommen. Tatsächlich ist die Liebe zwischen Eltern und Kind für die fundamentale Ausgestaltung des Lebens etwas Grundlegendes. Zwar entspricht sie nicht dem ‚coup de foudre’, der Liebe auf den ersten Blick, den die Franzosen ‚Blitzschlag‘ nennen. Doch gilt sie als größer, inniger und zarter. Aber nicht nur die Liebe, sondern auch die Verantwortung gegenüber dem Kind schreiben heutige Eltern groß: 62% der 35- bis 42-jährigen meinen, dass Eltern ihr eigenes Leben hinter dasjenige des Kindes stellen sollten. Diese Aufopferungspflicht ist international. Sie gipfelt darin, dass Kinder heute zu genau geplanten Lebenswerken geworden sind. Wenn Männer und Frauen Eltern werden, dann erträumen sie ihr Elternglück in vielen Farben, und eines steht fest: Das Kind soll etwas Besonderes werden, das alles überstrahlt. Das Ziel ist das perfekte Kind, und perfekte Kinder brauchen perfekte Eltern. Derartiges Streben kann jedoch problematische Folgen für die Kinder haben. Dafür sind jedoch kaum die Väter und Mütter verantwortlich, sondern in erster Linie ist es unsere Gesellschaft.
In den letzten zehn Jahren sind Väter und Mütter immer stärker zum Gegenstand des öffentlichen und politischen Interesses geworden. Grundsätzlich ist dies eine positive Entwicklung, denn die Familie ist lange genug ein Stiefkind der Politik gewesen (und ist es teilweise heute noch!). Problematisch ist allerdings, dass Erziehung, Betreuung und Bildung des Nachwuchses mehr und mehr politisiert werden und dies für Eltern negative Folgen hat. Eine oft vertretene gesellschaftliche Überzeugung ist dabei übermächtig: dass es allein der familiäre Einfluss sei – spricht: die «gute» Mutter und der «gute» Vater – welcher das Verhalten und Gedeihen des Nachwuchses bestimme. In der Bildungs- und Sozialpolitik besonders beliebt ist der Begriff der «verantworteten Elternschaft». Damit ist gemeint, dass man keine Kinder in die Welt setzen soll, wenn man nicht in der Lage ist, sie gut zu erziehen, zu fördern und zu bilden und dabei alle ihre Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu kommt, dass den Eltern kontinuierlich eingetrichtert wird, die ersten Lebensjahre seien die wichtigsten überhaupt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist diese Aussage zwar weitgehend richtig, doch die mit ihr verbundenen Drohungen – Wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördere, nehme das Risiko verpasster Chancen in Kauf – haben möglicherweise fatale Folgen.
Denn logischerweise haben sich solche Forderungen schnell auf das Selbstverständnis der Eltern übertragen und damit auch auf die Entwicklung der Kinder. Weshalb wundert man sich eigentlich, dass Eltern zunehmend begonnen haben, sich früh schon mit der Bildung ihrer Kinder zu beschäftigen? Sie verhalten sich ja nur genau so, wie dies die Politik immer einfordert! Warum ist man so erstaunt, dass Väter und Mütter ihre Antennen mit der Strategie «Früher=besser» dauernd ausfahren, um sich in Startposition zu bringen? Und weshalb der große Aufschrei, wenn Eltern Perfektionsträume entwickeln, die vor allem aus der Sorge um die Zukunft ihrer Kinder geboren werden und deshalb zumindest ein wenig helfen sollen, sich gegen die diffusen und bedrohlichen Ängste zu stemmen? Denn, wohin sie auch schauen und an wen sie sich auch wenden, sie werden bestätigt: Die Krise der Familie ist allgegenwärtig, und Schuld daran sind die Väter und Mütter!
Je mehr jedoch unsere Gesellschaft die Eltern unter Druck setzt, desto größer werden ihre Schuldgefühle. Diese Einschüchterungskultur macht aus normalen Eltern solche, die unter Dauerstress stehen, damit sie perfekt sein und aus ihren Sprösslingen Treibhauskinder machen können. Sie stecken vielmehr in einem Circulus Vitiosus, in einem Teufelskreis, und zwar deshalb, weil sie so instrumentalisiert werden, dass sie sich nicht mehr kompetent genug fühlen. Die Art und Weise, wie in der Öffentlichkeit der Erziehungsnotstand proklamiert wird, hat zum Eindruck geführt, als ob alle Eltern professionelle Hilfe von außen bedürften. Folgedessen ist ein Großteil der Eltern auch überzeugt, dass in der Entwicklung und Erziehung ihres Nachwuchses mit Sicherheit etwas schief gehen wird, wenn sie nicht Expertenunterstützung erhalten. Dieser fatalistische Blick erhöht jedoch nur ihre Angst und vermindert gleichzeitig ihre Fähigkeit, auf sachlicher und objektiver Basis intelligente und intuitionsbasierte Entscheidungen zu treffen. Unsere Gesellschaft inklusive viele der selbst ernannten Experten tragen zu einem großen Teil dazu bei, weshalb Väter und Mütter heute so verängstigt sind, sich überfordert fühlen und das Vertrauen in ihre natürliche Fähigkeit, gute Eltern sein zu können, verloren haben.
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