Die Ideologie der guten Mutter und ihre Hintergründe

Mütter mit kleinen Kindern sind mit ihren Karriere- und Erziehungsaspirationen oft auf Kollisionskurs. Sie finden sich gefangen in den Widersprüchen zwischen den Idealen der erfolgreichen berufstätigen Frau und der guten Mutter. Je mehr sie versuchen, ideale Mütter zu sein, desto geringer ist die Zeit, sich auf den Beruf zu konzentrieren. Und je mehr sie versuchen, den beruflichen Ansprüchen gerecht zu werden, desto weniger können sie sich ihrem Nachwuchs widmen. Der Feminismus meiner Generation hat ihnen zwar in Schule und Beruf Türen geöffnet, aber sie nicht darin unterstützt, eine Balance zu finden zwischen Karriere und Familie. Dies ist ein Grund, weshalb die Ideologie der guten Mutter heute wieder so wirksam ist.

Was steckt hinter diesem Phänomen? Unsere beiden Studien FRANZ* und TARZAN* erlauben einige, vorerst explorative Antworten. In erster Linie ist es ein fundamentales und umfassendes Verantwortungsgefühl vieler Mütter für alles, was mit dem Nachwuchs und seiner Erziehung zu tun hat. Dieses Verantwortungsgefühl schreiben sie sich alleine zu und nicht auch dem Partner. Dabei geht es weit mehr als um die Sorge für die körperliche Sicherheit und das emotionale Wohlbefinden. Es geht auch darum, dass sich das Kind besonders gut entwickelt. Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass sich Mütter immer wieder fragen, was wohl das Beste für das Kind ist und ob es tatsächlich die richtige Förderung bekommt.

Weshalb haben emanzipierte Mütter derartige Verantwortungsgefühle? Vier Gründe dürften dafür verantwortlich sein: (1) die gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber Fremdbetreuung; (2) der Slogan «Bildung beginnt bei der Geburt»; (3) die Hypothese des perfekten Kindes und (4) Mütter im Wettbewerb mit anderen Müttern.

(1) Die gesellschaftlichen Vorbehalte gegenüber Fremdbetreuung

In der Erziehung dominiert heute ein absolut kindzentrierter Ansatz, der von Müttern uneingeschränktes und emotional absorbierendes Engagement sowie arbeitsintensive Betreuung, Pflege und Förderung erfordert. Die Erwartungen an Mütter sind in den letzten 20 Jahren enorm gestiegen. Gespiesen werden sie in erster Linie durch die vielen Expertenmeinungen zur Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung, genauer: zur Mutterpräsenz. Dabei hat die NICHD-Studie** eine wichtige, aber zugleich sehr problematische Rolle gespielt. Unter anderem untersuchte sie die Auswirkungen verschiedener Formen familienergänzender Betreuungsangebote (Kitas, Tagesfamilien, Nannys, Verwandte etc.) auf die kindliche Entwicklung und die Rolle der abwesenden Mutter. Obwohl die Studienergebnisse gemischt waren und sich vor allem die Qualität der Kinderbetreuung als zentrales Kriterium für die kindliche Entwicklung erwies, wurde in den Medien ganz anders berichtet. Die Botschaft war vor allem die, dass fremdbetreute Kinder Verhaltensschwierigkeiten und Bindungsstörungen entwickeln würden und in der Schule mehr Probleme hätten. Dies hat hierzulande dazu geführt, dass sich berufstätige Frauen oft – nicht selten auch von der Verwandtschaft oder von Arbeitskollegen – Vorwürfe gefallen lassen müssen, sie seien Rabenmütter und die Ursache dafür, wenn sich ihr Nachwuchs nicht wie gewünscht entwickle. Es versteht sich deshalb von selbst, dass Frauen versuchen, gute Mütter zu sein und trotz Erwerbstätigkeit zu jeder Zeit für die Kinder da zu sein.

(2) Der Slogan «Bildung beginnt bei der Geburt»

In der gleichen Zeit wurde der Mythos geboren, wonach «Bildung bei der Geburt» beginne. Ausgehend von der Ansicht, wonach das Gehirn seine neuronalen Bahnen in den ersten drei Lebensjahren aufbaut, proklamierten viele Fachexperten, dass die kognitive Entwicklung vollkommen von der elterlichen Stimulation in dieser Periode abhänge. Dahinter verbirgt sich die Philosophie, dass Kinder nahezu alles lernen können, wenn es nur gut arrangiert ist. Schon für die Allerkleinsten gibt es heute Lern-DVDs mit vielversprechenden Namen wie «Baby-Einstein» oder «Baby-Van Gogh». Die riesige Industrie an Frühförderprogrammen und -beratungen suggeriert Müttern, sie seien selber schuld, wenn sie solche Angebote nicht nutzen und ihr Kind schon beim Schuleintritt hinter die anderen Kinder zurückfalle. Zwar haben viele Neurologen versucht, solche falschen Schlüsse zur elterlichen Stimulation zu neutralisieren und zu betonen, dass kleine Kinder, die in «normalen» Familien aufwachsen, keine spezielle Förderung brauchen. Nur ganz besonders vernachlässigte Kinder profitieren explizit davon. Dieses an sich beruhigende Korrektiv ist jedoch von Medien und Erziehungsratgebern weit seltener aufgenommen worden. Viele Mütter verstehen sich deshalb nach wie vor als erste und unabdingbare Förderinstanzen.

(3) Die Hypothese des perfekten Kindes

Natürlich ist es nachvollziehbar, dass Mütter besorgt sind, etwas durch Unterlassung falsch machen und dem Kind dadurch schaden zu können. Denn es ist nicht nur die Hirnforschung, welche ihnen Angst einjagt, sondern es sind gleichzeitig auch Aussagen von Experten, dass Eltern ihren Sprössling zu einem perfekten Kind erziehen können. So steht in vielen Ratgebern, dass Mütter und Väter ihre Kinder gescheiter machen könnten als sie dies jetzt tun. Und vom Neurologen Gerald Hüther stammt der Satz: «Jedes Kind ist hochbegabt.»*** Logischerweise üben solche Statements einen grossen Druck gerade auf Mütter aus, weil sie die Kindererziehung als ihren Verantwortungsbereich erachten und nichts übersehen wollen. «Können» wird vor diesem Hintergrund für sie schnell zu einem «müssen».

(4) Mütter im Wettbewerb mit anderen Müttern

Mutterschaft ist zu einem Wettbewerb geworden. Von jeder Familie wird erwartet, dass sie eine «verantwortete Elternschaft» betreibt. Damit ist gemeint, dass man keine Kinder in die Welt setzen soll, wenn man nicht in der Lage ist, sie gut zu erziehen, zu fördern und zu bilden und dabei alle ihre Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt zu stellen. Für Mütter bedeutet dies, dass sie ihr Kind nicht nur lieben, es betreuen und fördern, sondern aus ihm auch ein erfolgreiches Kind machen sollen. Denn erfolgreiche Kinder gelten als das Produkt der Mütter, welche ihren «Auftrag» ernst nehmen, auch dann, wenn sie berufstätig sind. Dieser Druck hat zur Folge, dass Frauen heute sehr genau hinschauen, was die Nachbarn für ihre Kinder tun, die Freunde oder die Kollegin am Arbeitsplatz. Der Soziologe Georg Simmel sagt, dass soziale Nachbarn als Vergleichsmassstab für die Art und Weise dienen, wie sich der Nachwuchs entwickelt, wie erfolgreich er ist und was er schon kann, aber auch, was aus ihm werden soll. Solche Vergleiche gründen in den Sorgen vieler Frauen vor dem Gedanken, ihr Kind könne etwas nicht, das von ihm erwartet wird und das es gegenüber anderen Kindern aus ähnlich situierten Familien auszeichnen würde.

Fazit: Je mehr unsere Gesellschaft Erfolg und Versagen den Müttern zuschreibt und dabei mit Angstszenarien argumentiert, desto grösser werden ihre Verantwortungs- und Schuldgefühle. Eine solche Einschüchterungskultur setzt auch an sich normale Mütter unter Dauerdruck und Dauerstress, so dass auch sie nur ein Ziel haben: alles fürs Kind zu tun und dabei keine Fehler zu machen, also perfekt zu sein. Davon handelt mein Buch, das am Donnerstag, den 17. März 2016 bei Piper**** erscheint.

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*margritstamm.ch -> Forschung -> Publikationen -> Dossiers

**NICHD Early Child Care Research Network (2001). Nonmaternal care and family factors in early development: An overview of the NICHD Study of Early Child Care. Journal of Applied Developmental Psychology 22, 457-492.

***Hüther, G. & Hauser, U. (2013). Jedes Kind ist hochbegabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen. München: Knaus.

****Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

Hört auf zu jammern! Die Berufsbildung braucht ein...
Ich will - und zwar sofort! Mangelnde emotionale K...

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Kommentare 1

Gäste - Sophie (website) am Dienstag, 03. Oktober 2023 07:52

Faszinierende Erkenntnis! Die Entlarvung des Mythos der angeborenen Intelligenz stellt gesellschaftliche Normen in Frage. Die Anerkennung des elterlichen Einflusses verändert die Paradigmen der Früherziehung

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