Ich will - und zwar jetzt! Wie wir Kinder zu kleinen Egoisten erziehen

erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 16.01.2017., 14.

Sind Vorschulkinder heute gescheiter als früher? Viele von ihnen können schon Sätzchen lesen, bis auf 100 zählen, Geige spielen oder sich auf Englisch unterhalten. Doch dahinter steckt nicht Klugheit, sondern eine intensivere Förderung. Frühförderung ist in. Die Vielfalt an Angeboten ist riesig, die Nachfrage auch.

Viele Kinder sind jedoch emotional retardiert. Misserfolge ertragen sie kaum, in der Schule warten, bis sie an der Reihe sind, funktioniert nicht, und mit Kritik der Lehrperson kommen sie schlecht zurecht. Zu Hause ist es ähnlich: Tisch decken oder Hamster füttern? Keine Lust. Werden sie dazu angehalten, reklamieren sie dauernd. Mit anderen Kindern spielen sie zwar gerne, aber nur, solange alles nach ihrem Wunsch läuft. Andernfalls reagieren sie beleidigt oder mit Wutanfällen. Ihre Psyche ist in einem permanenten Überforderungszustand.

Im Kleinkindalter gehört diese Ichbezogenheit zum normalen Entwicklungsprozess, doch sollte ein fünfjähriges Kind ein gewisses Mass an emotionaler Kompetenz, so auch die Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben («Frustrationstoleranz») und Kritik zu ertragen, erworben haben. Warum ist dies bei einem zunehmenden Anteil nicht mehr so?

Sicher nicht deshalb, weil solche Kinder «einen starken Willen» haben. Es gibt kein genetisch vorbestimmtes Temperamentsschicksal. Viele Eltern sind jedoch überzeugt, ihr Kind habe «den gleich starken Kopf wie der Vater» und sei deshalb besonders schwierig. Richtig ist, dass es einfachere und kompliziertere kindliche Temperamente gibt. Doch Anlagen sind nie so dominant, dass Eltern das Kind nicht durch ihre Erziehung formen könnten.

Dass es zwischen dem nachgiebigen Erziehungsverhalten und den Problemen des Sprösslings eine Verbindung geben könnte, kommt Vätern und Müttern oft gar nicht in den Sinn. Obwohl Kinder mit ihrem ichzentrierten Verhalten eine lenkende Erziehung geradezu einfordern würden, reagieren die Eltern noch nachgiebiger und verständnisvoller. So entsteht ein Teufelskreis, bei dem das Kind lernt: Egal was ist, ich stehe immer im Mittelpunkt.

Doch wäre es völlig falsch, den Eltern allein die Schuld für die Erziehung kleiner Egoisten zuzuschieben. Es ist vor allem der Hype um die frühe Förderung, der dazu geführt hat, dass die emotionale und soziale Erziehung ins Hintertreffen geraten ist. Lange hat man den Eltern eingetrichtert, wer nicht möglichst früh seinen Nachwuchs fördere, nehme später das Risiko verpasster Chancen in Kauf. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr! Logischerweise ist der Frühenglischkurs wichtiger geworden als die Fähigkeit, einen Konflikt mit Nachbarskindern alleine lösen zu lernen.

Dieser Trend ist fatal. Denn die Forschung belegt mit grosser Eindeutigkeit, dass der Schulerfolg nicht von frühen Förderkursen abhängt, sondern vor allem vom Ausmass emotionaler Kompetenz. Wer eine hohe Frustrationstoleranz hat und ein Ziel im Auge behalten kann, lässt sich von Enttäuschungen nicht entmutigen und ist in der Schule erfolgreicher. Kinder, die nicht gelernt haben, ihre Bedürfnisse aufzuschieben und immer im Mittelpunkt stehen wollen, können mit Niederlagen schlecht umgehen und eine unangenehme Situation kaum aushalten. Solche Fehlsteuerungen zeigen sich auch noch bei Teenies und ihrer Unfähigkeit, mit Konflikten umzugehen. Bei den kleinsten Herausforderungen knicken sie ein und reagieren entweder aggressiv oder ziehen sich zurück.

Wollen wir Kinder nicht zu Ichlingen erziehen, tun Eltern und auch Lehrkräfte gut daran, ihnen Selbstkontrolle und Frustrationstoleranz zu lehren. Zum Beispiel durch Üben, bis man etwas wirklich kann; indem man beim Spielen das Verlieren lernen oder etwas ausbaden muss, was man selbst verbockt hat. Oder auch dadurch, dass man Kinder nicht andauernd lobt. Überdosierte Anerkennung macht sie schwach, man muss sie deshalb für das Richtige loben. Schlauheit oder hübsch sein gehören nicht dazu, wohl aber ein Lob für Fleiss, Höflichkeit oder Gewissenhaftigkeit.

Im Leben scheint nicht immer die Sonne. Lernen Kinder früh, mit Frust umzugehen und das Wir anstatt das Ich einzuüben, schützt sie das ein Leben lang. Und dies ist das grösste Geschenk, das wir ihnen machen können.

Der harte Weg an die Spitze
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. W...

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Kommentare 1

Gäste - Georg Kleiner am Freitag, 27. Januar 2017 07:53

Sehr geehrte Frau Prof. Stamm, als ein Leser Ihres Dossiers Praktische Intelligenz kam ich zu Ihrer Seite.
Vielen Dank, sehr gelungen. Ich will, und zwar jetzt. Wie erfolgt eigentlich die Willlensbahnung. Ist es die starke Willlensbahnung, die wir bei Ichlingen beobachten? Wie und wo wird der Wille gebildet, weshalb vermögen Patienten es nicht, das richtige zu wollen, wenn es doch so einfach ist, Ichling zu sein? Weshalb kann ich nicht das richtige wollen und es zum Handeln führen, wenn ich es doch schon weiss? Obwohl neue Theorien (Julius Kuhl) dieses Feld bearbeiten, bleiben auch hier die Wirkungen auf so seltsame Weise aus. Es scheint so, als kämen wir genau so nicht an das intrinsische einer Willensbahnung heran wie das intrinsiche eines Wissens. Wenn wir es mit Motivation nicht schaffen, wie schaffen wir es dann? Auch unser Zugang zu Kreativität liegt hier. Wer vermag noch erfolgreich zu scheitern, also sein Zurückgeworfen werden als Grund zu nehmen ein zweites und drittes mal das Versagen zu riskieren und möglicherweise zu erleben. Hier möchte ich eine Spur zu Nikolaus von Kues legen, bei dem ich geradezu das unerschlossene Vorhandensein einer Möglichkeitsphilosophie vermute. Im idiota de mente, dem Löffelschnitzer gibt er mit einem Vergleich ein Rätsel auf, das ich an Sie weitergeben möchte:
"Wenn ein noch so vollkommenes Bild nicht vollkommener und seinem Vorbild ähnlicher sein kann, ist es niemals so vollkommen wie ein beliebiges unvollkommenes Bild, das das Vermögen hat, sich immer mehr und mehr ohne Begrenzung dem unerreichbaren Vorbild gleichzugestalten. Hierin ahmt es nämlich die Unendlichkeit in der Weise des Bildes, wie es kann, nach. Das ist so, wie wenn ein Maler zwei Bilder malte, von denen das eine, tote, ihm in Wirklichkeit ähnlicher schiene, das andere aber, das weniger ähnliche, lebendig wäre, nämlich ein solches, das sich selbst, durch seinen Gegenstand in Bewegung gesetzt, immer gleichförmiger machen könnte. Niemand zweifelt daran, daß das zweite vollkommener ist, weil es gleichsam die Malerkunst mehr nachahmt. So hat jeder Geist, auch der unsrige, obgleich er niedriger erschaffen ist als alle anderen, von Gott, daß er in der Weise, in der er kann, vollkommenes und lebendiges Bild der unendlichen Kunst ist."
Liegt das "stille Wissen" nicht in dem unvollkommenen Bild? Muss Hans nicht wieder zum Hänschen werden, um es zu finden?
Wohlergehen!

Sehr geehrte Frau Prof. Stamm, als ein Leser Ihres Dossiers Praktische Intelligenz kam ich zu Ihrer Seite. Vielen Dank, sehr gelungen. Ich will, und zwar jetzt. Wie erfolgt eigentlich die Willlensbahnung. Ist es die starke Willlensbahnung, die wir bei Ichlingen beobachten? Wie und wo wird der Wille gebildet, weshalb vermögen Patienten es nicht, das richtige zu wollen, wenn es doch so einfach ist, Ichling zu sein? Weshalb kann ich nicht das richtige wollen und es zum Handeln führen, wenn ich es doch schon weiss? Obwohl neue Theorien (Julius Kuhl) dieses Feld bearbeiten, bleiben auch hier die Wirkungen auf so seltsame Weise aus. Es scheint so, als kämen wir genau so nicht an das intrinsische einer Willensbahnung heran wie das intrinsiche eines Wissens. Wenn wir es mit Motivation nicht schaffen, wie schaffen wir es dann? Auch unser Zugang zu Kreativität liegt hier. Wer vermag noch erfolgreich zu scheitern, also sein Zurückgeworfen werden als Grund zu nehmen ein zweites und drittes mal das Versagen zu riskieren und möglicherweise zu erleben. Hier möchte ich eine Spur zu Nikolaus von Kues legen, bei dem ich geradezu das unerschlossene Vorhandensein einer Möglichkeitsphilosophie vermute. Im idiota de mente, dem Löffelschnitzer gibt er mit einem Vergleich ein Rätsel auf, das ich an Sie weitergeben möchte: "Wenn ein noch so vollkommenes Bild nicht vollkommener und seinem Vorbild ähnlicher sein kann, ist es niemals so vollkommen wie ein beliebiges unvollkommenes Bild, das das Vermögen hat, sich immer mehr und mehr ohne Begrenzung dem unerreichbaren Vorbild gleichzugestalten. Hierin ahmt es nämlich die Unendlichkeit in der Weise des Bildes, wie es kann, nach. Das ist so, wie wenn ein Maler zwei Bilder malte, von denen das eine, tote, ihm in Wirklichkeit ähnlicher schiene, das andere aber, das weniger ähnliche, lebendig wäre, nämlich ein solches, das sich selbst, durch seinen Gegenstand in Bewegung gesetzt, immer gleichförmiger machen könnte. Niemand zweifelt daran, daß das zweite vollkommener ist, weil es gleichsam die Malerkunst mehr nachahmt. So hat jeder Geist, auch der unsrige, obgleich er niedriger erschaffen ist als alle anderen, von Gott, daß er in der Weise, in der er kann, vollkommenes und lebendiges Bild der unendlichen Kunst ist." Liegt das "stille Wissen" nicht in dem unvollkommenen Bild? Muss Hans nicht wieder zum Hänschen werden, um es zu finden? Wohlergehen!
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