Leistungssport im Treibhaus - Der Turnskandal in Magglingen wirft zusätzliche Fragen auf

erschienen in Schaffhauser Nachrichten, 19.11.2020


Die Elfjährige als Turntalent, der Zehnjährige mit dem Ziel, Profifussballer zu werden. Der Leistungssport beginnt immer früher. Woher kommt das? Warum müssen Kinder nicht nur gute Noten in der Schule haben, sondern auch im Sport brillieren? Weshalb ist der Wunsch so gross, aus einem durchschnittlichen Kind ein aussergewöhnliches Kind zu machen? Weil der Leistungssport zu einem Hype, zu einem Statussymbol, geworden ist und deshalb oft zu einem Treibhaus. Nicht wenige Vereine sprechen bereits bei kleinen Kindern von «Talenten», was bei ihnen selbst grosse Illusionen weckt und bei den Eltern die Überzeugung, ihr Sprössling sei etwas Besonderes.

Dunkle Seiten des Leistungssports: die Deselektion

Der Leistungssport ist etwas Wichtiges. Manche Kinder können sich durch ihn ausgewogener entwickeln als ohne ihn. Doch die Kehrseite sind Ehrgeiz und Druck aus dem näheren Umfeld – vor allem von Eltern sowie Trainerinnen und Trainern. Eine zu hohe Dosis bewirkt, dass Kinder unter dem Erwartungsdruck zusammenbrechen. Manchmal werden sie zur Sportpsychologin oder ins Pilates geschickt, trotzdem ändert sich wenig.

Über eine andere dunkle Seite des Leistungssports wird kaum gesprochen: Was geschieht mit Kindern, die den Erwartungen nicht genügen? Der Sport ist wie eine Pyramide organisiert. Am unteren Ende sind die Kinder, welche sich ihm mit grosser Begeisterung widmen. Aber wenn sie die Pyramide hochklettern, werden nur wenige an die Spitze gelangen. Das Ganze wird zu einem immer engeren Nadelöhr. «Deselektion» nennt man diese Strategie in der Sportwissenschaft, die Rückversetzung der Kinder in die zweite oder dritte Reihe. Deselektion tönt nicht nur brutal, sie ist es auch und leider der Regelfall. Doch kaum jemand kümmert sich um diese Kinder. Sie verschwinden in der Versenkung, und ihre Eltern kommen nicht immer damit klar.

Eltern und ihre Schlüsselrolle: Das Wie der Unterstützung

Seien wir ehrlich: Finanzielle, psychische und zeitliche Elterninvestitionen brauchen Wirkung. Stellt sich der Erfolg trotzdem nicht ein, müssen Kinder nicht nur die Enttäuschung der Eltern verarbeiten, sondern auch mit Vorwürfen rechnen: «Du könntest viel besser sein!» «Warum gibst du so schnell auf?» Doch solche Appelle führen dazu, dass die Kinder die Freude am Sport und ihr Selbstwertgefühl verlieren.

Eltern spielen eine Schlüsselrolle im Leistungssport, weil es bei der Begleitung vor allem auf das Wie ankommt: Wie sie ihr Sport-Kind unterstützen und auf seine Seele, seinen Körper, seine Persönlichkeit und sein Temperament Rücksicht nehmen. Väter und Mütter, die ein fürsorgliches Familienklima schaffen und ihren Ehrgeiz zügeln können, merken schnell, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt: Wenn es nicht gern ins Training geht, nicht darüber sprechen will und unangenehme Dinge abblockt; wenn es unglücklich vom Training zurückkommt oder es vor- und nachher nicht gut schläft oder kaum isst. Dann ist es nicht nur Zeit, es dort sachte abzuholen, wo es steht, sondern auch selbst über die Bücher zu gehen und dem sportlichen Traum die Flügel zu stutzen.

Notwendig ist ein Plan B

Genau deshalb sollten Eltern – aber ebenso Trainerinnen und Trainer – einen Plan B haben. Also nicht nur auf Spitzensport setzen, sondern eine Berufslehre bis zur Lehrabschlussprüfung durchziehen oder die Matura machen und eine Studium anhängen. Ein Plan B muss zu einer Grundbedingung werden, damit man im Leistungssport überhaupt an die Spitze kommen kann. Dann ist es halb so wild, wenn aus dem Kind kein Superstar wird, sondern ein junger Mensch mit guten Berufsaussichten, dem die Freude am Sport nicht abhandengekommen ist. 

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