Mutterliebe und Mutterinstinkt: kein Rezept für alle
Wer von Mutterschaft spricht, tut es auch aufgrund der Tatsache, dass wir alle von einer Frau geboren worden sind. Weil der Körper der Frau fruchtbar ist, werden weibliche Wesen mit der Natur identifiziert. Ein Kind zu empfangen, auszutragen und es zu erziehen gelten als genuin weibliche Fähigkeiten. Dies bedeutet für viele, dass hier auch der Platz ist, an dem eine Mutter wirklich glänzen kann – und glänzen muss, weshalb sie als geeignetste und fähigste Fürsorgeperson in den ersten Lebensjahren die Kinder selbst betreuen soll.
Mutterliebe ist kein automatischer Bestandteil der weiblichen Natur
Heute wissen wir, dass Mutterliebe kein natürlicher, unabänderlicher Instinkt ist, kein automatischer Bestandteil der weiblichen Natur, sondern ein menschliches Gefühl, das in höchst unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden sein kann. Mutterschaft hat sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten, und der unterschiedliche Umgang der Menschen mit ihren Kindern in verschiedenen Epochen und Gesellschaften belegt die vielfältigen Lösungsmöglichkeiten für das Grossziehen von Kindern.
In der Wissenschaft nennt man die Annahme der naturgegebenen Mutterschaft biologischen Determinismus. Der Mutterinstinkt ist eine logische Folge einer solchen naturalistisch orientierten Ideologie*. Es gibt eine ganze Menge an Büchern, die nachweisen, dass es diesen Mutterinstinkt gibt**. Oft heisst es: Jede Frau weiss instinktiv, wie man sich um Babys kümmert. Belegt wird dies dann mit den Hormonen Prolactin und Oxytocin, welche die Milchproduktion steuern und angeblich einen Euphorisierungszustand auslösen. Doch die Mutter gibt es nicht, genauso wenig wie das Kind. Deshalb kann es auch nicht die Mutterliebe geben oder den Mutterinstinkt. Es gibt Mütter, die verschmelzen mit ihrem Kind, andere aber nicht. Deswegen ist die eine keine schlechtere Mutter als die andere. Auch die amerikanische Soziobiologin und Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy*** sagt, der Mutterinstinkt sei weder instinktiv, noch sei er allen Müttern eigen, und es gäbe kein Rezept für alle.
Auch Väter sind zu intensiven Gefühlen fähig
Was bedeutet dies für die Vorbereitung auf die Mutterschaft? Dass sich schwangere Frauen damit auseinandersetzen sollten, möglicherweise nicht die riesigen und überwältigenden Gefühle bei und nach der Geburt zu haben, die von den Mutterinstinkt-Gläubigen immer und immer wieder als Messlatte einer guten Mama vorgegeben werden. Und werdende Mütter können sich auch vor Augen führen, dass Forschung und Praxis nur wenige Nachweise für den biologischen weiblichen Determinismus liefern. Selten liest man beispielsweise davon, dass auch andere Personen (beispielsweise Adoptiveltern) ohne Mutterschaftshormone zu intensiven Gefühlen fähig sind. Und nur zögerlich wird die gesicherte Erkenntnis aufgenommen, dass Väter genauso feinfühlig die Kinder betreuen können, sich aber in der Art und Weise, wie sie dies tun, von den Müttern unterscheiden****. Obwohl die Mutter aufgrund von Schwangerschaft und Stillfähigkeit eine grössere biologische Nähe zum Kind hat, führt dies nicht automatisch zu einer besseren Fürsorgefähigkeit. Vielmehr müssen Fürsorge, Betreuung und Erziehung von beiden Partnern im Alltag erst einmal on the job gelernt werden.
Eine Standfestigkeit gegenüber der Mutterinstinkt-Ideologie entwickeln
Erstaunlicherweise haben solche Erkenntnisse die öffentliche Meinung bisher wenig beeinflusst. Dies hat massgeblich mit dem Dogma der intensiven Mutterschaft zu tun*****. Werdende Mütter tun deshalb gut daran, sich einerseits von Ärztinnen und Ärzten und anderen Fachpersonen betreuen zu lassen, die eine realistischere Haltung gegenüber dem Mutterinstinkt vertreten, sich aber andererseits ebenso mit gleichgesinnten Müttern, Freundinnen und Freunden zusammenzutun, um eine gewisse Standhaftigkeit gegenüber der Mutterinstinkt-Ideologie entwickeln zu können.
Weiterführende Literatur
* Kleikamp, T. (2018). Mutterschaftskonzepte von Akademikerinnen. Zwischen Gleichberechtigungsanspruch und Naturalismusdebatte. In: H. Krüger-Kirn & Wolf (Hrsg.), Mutterschaft zwischen Konstruktion und Erfahrung (S. 91-102). Leverkusen: Budrich.
** Badinter, É. (2010). Der Konflikt: Die Frau und die Mutter. München: Beck.
*** Blaffer Hrdy, S. (2010). Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution. Berlin: Berlin Verlag.
**** Stamm, M.(2018). Neue Väter brauchen neue Mütter. Weshalb Familie nur gemeinsam gelingt. München: Piper, S. 165ff.
***** Stamm, M. (2020). Du musst nicht perfekt sein Mama. Schluss mit dem Mamamythos. München: Piper.
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Kommentare 1
Es ist erfrischend, einen Blogbeitrag zu lesen, der die Vorstellung des Mutterinstinkts in Frage stellt. Es ist wichtig zu erkennen, dass Mutterliebe und Mutterinstinkt nicht automatisch in jeder Frau vorhanden sind und dass Mutterschaft vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Die Betonung der Tatsache, dass auch andere Personen ohne Mutterschaftshormone zu intensiven Gefühlen fähig sind und dass Väter genauso feinfühlig die Kinder betreuen können, ist lobenswert. Es ist entscheidend, dass werdende Mütter sich von der intensiven Mutterschafts-Ideologie lösen und eine realistischere Haltung einnehmen. ??
Liebe Grüsse,
Pfüderi