Perfekt bis zum Zusammenbruch: Ist Perfektionismus Fluch oder auch Segen?
Leistungsorientierung geniesst in unserer Gesellschaft eine hohe Wertschätzung. Am deutlichsten zeigt sich dies im Perfektionismus. Besonders en vogue ist er als «Best Practice» im Management. Wer als Manager oder Managerin besser als gut sein will, muss einen inneren Plan, eine Landkarte des Sollens und Müssens verinnerlicht haben. Anders geht es kaum. Derartiges Verhalten erinnert allerdings an die radikalste Variante des Perfektionismus, an Nietzsches Idee des Übermenschen. Dieser Übermensch ist das souveräne Individuum, das weiss, dass es seine persönlichen Ziele nur in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung verwirklichen kann. Vorbereitung und Exaktheit der Ausführung sind die Koordinaten. Wenn er ihnen brav folgt, kann gewiss sein, dass nichts schief gehen wird.
Auch im Privatleben setzt sich der Übermensch kontinuierlich durch. Der Zwang zur Selbstoptimierung spricht Bände*. Obwohl es eigentlich anstrengend ist, sich so zu verhalten, üben sich viele Menschen unablässig darin: im Haushalt, in der Freizeit, im Liebesleben. Die Wäsche muss perfekt gebügelt, das Dinner perfekt vorbereitet, das Wochenende in Paris perfekt durchorganisiert und der Körper hierfür perfekt aufbereitet sein. Auch im Sport gilt Identisches. Leistungssport wird unhinterfragt als Lebensschule verstanden, verbunden mit der ständigen Herausforderung zur Selbstoptimierung. Als Hobby-Joggerin werde ich immer wieder damit konfrontiert. Viele dieser Sportlerinnen und Sportler haben anspruchsvolle Ziele, sind oft Perfektionisten und wollen bestimmte Ziele unbedingt erreichen. Deshalb erhöhen sie die Dosis ständig, damit sie noch schneller und optimaler werden.
Anders ist es in der Populärliteratur. Hier wird Perfektionismus fast ausschliesslich negativ dargestellt. Dies zeigt sich in Titeln wie «Die Perfektionismusfalle» oder «Die Kunst, nicht ganz perfekt zu sein**. Solche Publikationen warnen vor der weit verbreiteten Vorstellung, dass Perfektionisten allen Anforderungen gerecht werden sollten. Das Weiterfunktionieren bis zum Zusammenbruch gilt dabei als typisch.
Auch in der Schule gelten Perfektionisten, vom Kindergarten bis zur Universität, als ungesunde Streber, die nicht in den Main-Stream passen und mit Sicherheit Entwicklungsprobleme haben werden. Ein Beispiel hierfür ist der Film «Vitus» von Fredi Murer, in dem ein Knabe (Teo Gherghiu) versucht, seinen Perfektionismus mit Hilfe seines Grossvaters (Bruno Ganz) loszuwerden.
Soweit so gut. Ist denn der Drang nach perfekten Leistungen immer nur bedenklich? Mitnichten! Perfektionismus hat polare Seiten. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, unterscheidet die Wissenschaft zwischen einem gesunden («funktionalen») und einem leidenden («dysfunktionalen») Perfektionismus***:
- Der «gesunde» Perfektionismus: Er zeigt sich bei Menschen, die richtig gut sein wollen, ihr Bestes geben und sich dafür auch ordentlich ins Zeug legen. Gleichzeitighaben sie keine Angst davor, Fehler zu machen, zu versagen und sich dabei nicht gleich als Person in Frage zu stellen. Sie können Erfolge geniessen, ohne schon an die nächste Hürde zu denken. Gesunde Perfektionisten machen gemäss Forschung etwa die Hälfte der Perfektionisten aus.
- Der «leidende» Perfektionismus: Menschen, welche diese Art von Perfektionismus in sich tragen, setzen sich ebenfalls hohe Standards, aber genauso gross ist ihre Angst, zu versagen. Sie zweifeln oft an ihrer Leistungsfähigkeit und befürchten, den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden. Wenn etwas nicht klappt, geben sie sich selbst die Schuld und zweifeln an sich als Person. Sie kennen nur gut oder schlecht. Dies wiederum hat Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl und ihren Glauben daran, schwierige Situationen aus eigener Kraft meistern zu können. Mütter sind besonders gefährdet und zwar deshalb, weil sie massiv unterschiedlichen Erwartungen ausgesetzt sind. Der eine sagt dies, der andere anderes, der Partner das, die Schwiegermutter jedoch wiederum etwas Neues.
Woher rührt das gesunde und ungesunde Streben nach Perfektion? Die Ursachen sind nicht hinlänglich geklärt. Wie bei vielen Persönlichkeitseigenschaften scheint es eine gewisse erbliche Komponente zu geben, vor allem aber spielt das Elternhaus eine bedeutsame Rolle. Väter und Mütter sind wichtige Modelle für ihre Kinder.**** Perfektionisten lernen schon früh im Leben, dass Leistung wichtig ist. Natürlich ist das nicht negativ, doch kommt es sehr darauf an, wie Eltern mit Fehlern ihrer Kinder umgehen. Schimpfen sie, strafen sie, praktizieren sie Liebesentzug oder verzeihen sie Fehler und geben ihren Kindern trotzdem viel Zuwendung? Das ist entscheidend. Vor allem dann, wenn Eltern Mühe haben, mit Misserfolgen ihres Nachwuchses umzugehen. Oft praktizieren sie deshalb eine psychisch kontrollierende Erziehung im Sinne von Liebensentzug. Damit schaffen sie die besten Voraussetzungen, dass sich bei ihren Kindern ein leidender Perfektionismus. Typisch für sie ist, dass sie dann immer wieder aufs Neue versuchen, sich Anerkennung zu verschaffen und sich dadurch der Liebe der Eltern zu versichern.
Obwohl es eine Menge ungeklärter Fragen gibt, kann man ebenso mit Sicherheit sagen, was an der Diskussion falsch läuft. So stimmen Behauptungen nicht, Perfektionismus sei per se schädlich. Richtig ist vielmehr, dass es vor allem darauf ankommt, wie man mit perfektionistischen Idealen im täglichen Leben umgeht und wie man die eigene Person dabei integriert. Perfektionismus kann sehr wohl als positive Antwort auf hohe Leistungsmotivation verstanden werden. Die Konzentration auf seine schwächende und einschränkende Natur entspricht kaum einer ressourcen- und potenzialorientierten Förderung von Begabungen und Talenten.
Literatur
*Tingler, P. (2016). Selbstoptimierung als Pflicht. Wie sich der Geist des Kapitalismus verändert. Tagesanzeiger, 04.05. http://blog.tagesanzeiger.ch/blogmag/index.php/40718/protestantischer-hedonismus/
**Ruthe, R. (2003). Die Perfektionismusfalle. Moers: Brendo; Zöllner, U. (2001): Die Kunst, nicht ganz perfekt zu sein. Stuttgart: Kreuz.
***Altstötter-Gleich, C. (2003). Funktionale und dysfunktionale Aspekte des Perfektionismus. 7. Arbeitstagung Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik. Halle.
****Stamm, M. (2008). Perfektionismus und Hochbegabung. news&science , 1, 36-40.
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