Schwänzen und die Haltekraft von Schulen
Noch vor wenigen Jahren galt Schwänzen als Kavaliersdelikt. In neuester Zeit haben Gesellschaft und Schulen diese Meinung geändert. Zumindest lässt sich dies aufgrund vieler Medienberichte und auch meiner Erfahrungen aus Referaten und wissenschaftlichen Begleitungen vermuten. Schulabsentismus ist zu einem ernst zu nehmenden Thema geworden. Insbesondere seit der Pandemie scheint sich die Situation verschärft zu haben. Nicht nur, weil Schulschwänzen offenbar zunimmt. Sondern genauso, weil Jugendliche heute ziemlich offen sagen, der Leistungsdruck in Schule und Ausbildung „zwinge sie dazu", die Schule zu schwänzen*. Diese Offenlegung ist neu. Bisher - und auch in unserer Studie - wurde Schwänzen immer verborgen.
Schwänzen beginnt früh, ist aber nicht in jedem Fall dramatisch
Was ist Schulschwänzen, und was verbirgt sich dahinter? Definiert wird Schulschwänzen als unerlaubtes Fernbleiben von der Schule ohne Grund, entweder mit oder ohne Wissen der Eltern. Unsere repräsentative Nationalfonds-Studie zum Schwänzverhalten Jugendlicher in 7., 8. und 9. Klassen belegt, dass etwa jeder zweite Schüler und jede zweite Schülerin ab und zu die Schule schwänzt, dass dies mehr als 50% regelmässig tun und 5.8% als massive Schulschwänzer zu bezeichnen sind, die teilweise ganze Wochen der Schule fernbleiben. Dabei bestehen zwischen Mädchen und Knaben Unterschiede. Mädchen gehören häufiger zu den Gelegenheitsschwänzern, während Knaben fast doppelt so oft massive Schulschwänzer sind. Erstaunlicherweise beginnt das Schwänzen schon früh, manchmal bereits beim Schuleintritt (was eher als "Zurückhalten der Eltern" bezeichnet werden muss). Und es steigt mit dem Alter an. Achtklässler schwänzen fast doppelt so häufig wie Sechst- und Siebtklässler**.
Die hauptsächlichen Gründe für das Schwänzen sind Schulängste und Trennungsängste von Eltern (oft von Müttern), Schulverdruss, Langeweile, Leistungsvermeidung und Leistungsdruck, schlechte Beziehungen zu Mitschülern und Lehrpersonen sowie familiäre Probleme. Erstaunlich ist, dass die Mehrheit der Eltern ein solches schulisches Fernbleiben toleriert. Fast 30% sind sogar bereit, eine Entschuldigung dafür zu schreiben oder ein Arztzeugnis einzuholen. Auffallend ist, dass sich Schulen im Ausmass ihrer Schwänzerraten stark unterscheiden. Es sind nicht Schulen in Brennpunktgebieten, welche am meisten schwänzende Jugendliche verzeichnen, sondern Schulen, welche Absentismus als Bagatelle betrachten.
Massive Schulschwänzer sind ein Risikomarker für den Schulabbruch
Schwänzen darf grundsätzlich nicht dramatisiert werden. Gelegentliches unerlaubtes Fernbleiben kann eine entwicklungstypische Form autonomiesuchenden Verhaltens der Jugend sein und in diesem Sinne als «normal» gelten. Doch häufiges, systematisches und massives Schwänzen kann höchst problematisch werden. Im Vergleich zu Gelegenheitsschwänzern haben massive Schwänzerinnen und Schwänzer nicht nur deutlich schlechtere Schulleistungen, sondern sind auch auffallend oft delinquent. Zwischen 43% und 73% haben schon Diebstähle begangen, anderen Körperverletzungen zugefügt oder sie mit Gewalt bedroht, waren bei Sachbeschädigungen beteiligt oder haben Unterschriften oder Zeugnisse gefälscht. Massive Schulschwänzerinnen und Schwänzer haben gemäss unserer Längsschnittstudie ein hohes Gefährdungsprofil, weil es sich als stärkster Risikomarker für einen Schulabbruch erweist (Dropout)***.
Prävention durch Haltekraft
Wie soll man diesem Problem begegnen?**** Erstens, indem Schulen das Problem wahrnehmen, als solches anerkennen und darüber sprechen. Wichtig sind zweitens Schulleitungen, die Absentismus zur Chefsache erklären, weil sie zusammen mit den Lehrkräften die Schulpräsenz ein wichtigstes Qualitätsmerkmal verstehen. Schulleitungen tun viel dafür, dass Lehrkräfte motiviert sein können und verpflichten sie auch dazu, sich für abwesende Schülerinnen und Schüler auf Beziehungsebene einzusetzen und den Kontakt mit den Erziehungsberechtigten zu suchen. Dies gilt auch dann, wenn eine Kontaktaufnahme schwer fällt, weil die Eltern ihre Sprössling decken. Das vielleicht Wichtigste ist die Tatsache, dass schon kleine systematische Interventionen hilfreich sein können, aber nur dann, wenn das Kollegium an einem Strang zieht und Massnahmen konsequent durchführt. Also: Klare Absenzensysteme, schnelle Reaktion auf Fehlzeiten, direktes Ansprechen der Schülerin/des Schülers ("Es ist mir wichtig, dass du anwesend bist. Warum gelingt dir das nicht?") sowie direkte Elternarbeit.
Eine Schule, die ihre Haltekraft als Leitidee zu verwirklichen sucht, zeigt den Schülerinnen und Schülern, dass sie sich wohlfühlen dürfen, dass aber genauso etwas von ihnen erwartet wird und sie trotzdem Unterstützung bekommen. Und vor allem machen Lehrerinnen und Lehrer deutlich, dass ihnen die Präsenz jedes einzelnen Schulkindes wichtig ist.
Schwänzen mittels Bussen eliminieren?
Die vielleicht wichtigste Strategie ist die, Schwänzen als pädagogisches Problem zu verstehen und nicht lediglich als Ausdruck einer formalen Angelegenheit, die beispielsweise mittels Bussen gelöst werden kann. Denn Schulschwänzen ist – auf welcher Stufe auch immer – die negativste Form schulischer Partizipation.
Wer die Meinung vertritt, die Lösung des Problems hätten einzig die Schulen zu verantworten, liegt falsch. Schulen sind nicht in der Lage, Absentismus zu eliminieren, sie können lediglich einen Beitrag zu dessen Minimierung leisten. Die Hauptverantwortung liegt beim Elternhaus. Gerade deshalb braucht unsere Gesellschaft endlich eine bildungspolitische Debatte, die sich vertieft mit dem pädagogischen Problem des Schulabsentismus befasst und auch das Elternhaus in die Verantwortung nimmt. Allerdings nicht lediglich mit Bussen, wie dies immer öfters der Fall ist*****.
Weiterführende Literatur
*Siehe die Berichte Jugendlicher in 20 Minuten: https://www.20min.ch/story/der-leistungsdruck-in-der-schule-ist-viel-zu-hoch-710084187910. Aktuell sind wir daran, solche Fallstudien zu eruieren.
**Stamm, M. (2022). Zu cool für die Schule? Abbrüche, Ausstiege und Ausschlüsse von Kindern und Jugendlichen aus und von der Schule. Dossier 13/2. Bern: Forschungsinstitut Swiss Education.
**** Stamm, M., Holzinger-Neulinger, M. & Suter, P. (2012). Schulabbrecher in unserem Bildungssystem. Wiesbaden: VS Fachverlag. Siehe auch: https://bit.ly/40u8rXT
****Stamm, M. (2008). Die Psychologie des Schulschwänzens. Rat für Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker. Bern: Huber.
*****https://www.aargauerzeitung.ch/amp/aargau/kanton-aargau/aargauer-lernende-zahlen-mehr-als-300-000-franken-bussen-furs-schwanzen-ld.1386217
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