Wo sind die goldenen Hände geblieben? Hintergründe zum Mangel im Handwerk
erschienen in Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 17.0.2023, S. 2
Unsere jungen Berufsleute sind top – von der Coiffeuse über den Fassadenbauer bis zur Schreinerin. Davon konnten wir uns an den Swiss Skills, den Schweizer Berufsmeisterschaften, im letzten Herbst überzeugen. Trotzdem fehlen die goldenen Hände überall. Ende 2022 gab es allein im Handwerk 50'980 offene Stellen.
Das angeschlagene Image
Was läuft hier falsch? Offenbar vieles. Die Statistik belegt, dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Hochschulabschlüsse von zehn auf 29 Prozent gestiegen sind, die Berufslehre als höchster Abschluss jedoch von 52 auf 36 Prozent gesunken ist. Zwar gibt es kaum empirische Studien dazu, doch eine These, die es zu überprüfen gilt. In den letzten Jahren hat sich die Bildungspolitik zunehmend auf die Akademisierung der Bildungsgänge konzentriert und die Berufsmatura inklusive Fachhochschule als Königsweg postuliert.
Eine Folge davon dürfte das angeschlagene Image des Handwerks sein. Je mehr ein Beruf mit Kraft und Körperarbeit verbunden wird, desto tiefer ist sein Status. Auch in manchen Familien gilt unterschwellig der Kodex, dass schwielige Hände für das eigene Kind nicht «comme il faut» sind.
Berufliche Handlungskompetenz ist wichtiger als ein akademischer Abschluss
Gleichzeitig wurde im Zug solcher Akademisierungsbestrebungen vergessen, die Profile von Real- und Sekundarschulen zu schärfen und diese Bildungswege stärker zu bewerben. Denn der Tunnelblick auf das «höher gleich besser» gaukelt vor, Heranwachsende könnten jeden Abschluss erreichen, wenn sie sich nur anstrengen und von Schule und Elternhaus unterstützt werden. Darum gilt der höchste Abschluss als der beste – auch dann, wenn die Fähigkeiten der Jugendlichen ausgepresst werden müssen.
Selbstverständlich ist der Einwand richtig, dass die Anforderungen der Berufsbildung beträchtlich steigen und dies in der Ausbildung berücksichtigt werden muss. Falsch ist, solche Anforderungen ausschliesslich mit der Notwendigkeit akademischer Abschlüsse zu legitimieren und diese wiederum mit Professionalität gleichzusetzen. Relevanter wäre, Ausbildungserfordernissen differenzierter zu begegnen und die berufliche Handlungskompetenz als wichtigstes Ziel zu formulieren. Ein Beispiel ist die höhere Berufsbildung. Weil ihre Bedeutung in der Akademia-Euphorie nahezu unerwähnt bleibt, gibt es zu wenig Beispiele von Karrieren, die mit einer höheren Berufsbildung möglich sind. Wenn die Tochter eines Lehrers zuerst Malerin wird, dann eine höhere Berufsbildung als «Projektleiterin Farbe» absolviert und sich später selbständig macht, kann sie ihren Vater in jeder Hinsicht überholen. Solche Modelle würden junge Menschen zum Aufbau ihrer Berufsidentität brauchen.
Die Scheuklappenperspektive bei der Berufswahl
Das Problem beginnt bereits mit der beruflichen Orientierung, die im Lehrplan 21 in der zweiten Oberstufenklasse vorgesehen ist. Doch in der Realität sieht es anders aus. Verschiedene Studien belegen, dass Familien schon in der fünften Klasse den Bildungsweg ihres Sprösslings planen und alles dafür tun, dass ihre Strategie Wirklichkeit wird. Zwar ist hinlänglich bekannt, dass dies in ambitionierten Familien oft das Gymnasium ist. Doch auch wenn Eltern den Blick auf eine Berufslehre richten, tun sie dies mit einer Scheuklappenperspektive, die sich auf den Nachwuchs abfärbt. Durchschnittlich nehmen Familien nur vier der etwa 230 existierenden Berufe in den Blick – und zwar diejenigen mit dem höchsten Image-Faktor. Er ist bei der Berufswahl fast wichtiger als die Tätigkeit an sich. Logischerweise wirkt das Image des Handwerks abschreckend: Harte körperliche Tätigkeit, frühes Aufstehen, wenig Anerkennung.
Der eklatante Mangel im Handwerk könnte eine grosse Chance werden, den Akademisierungstrend zu relativieren. Würde jeder Mensch nach seiner Leistung, nicht nach seinem Titel eingeschätzt, könnten schmutzige, aber goldene Hände aufgewertet werden. Und kluge Köpfe würden nicht weiterhin überdimensioniert verehrt.
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