Von der Bergtour in die Giganterie der Medizin

Seit dreissig Jahren bin ich nie mehr krank gewesen. Die Spitäler kenne ich vor allem von Krankenbesuchen. Und nun dies: Auf einer unserer Bergtouren hat mich frühmorgens um sechs Uhr ein Biker über den Haufen gefahren. Die Folge: Rückenverletzungen mit längerer Behandlung und Rehabilitation – zum Glück keine Kopfverletzungen.

Von meinem Spitalbett aus konnte ich direkt auf das gigantische Hochhaus schauen, das im Bau ist. Meine behandelnden Ärzte haben mir voller Stolz erzählt, dass er fast 100 Zimmer  und 14 neue Operationssääle haben werde, was die Anstellung von zusätzlichen 40 Anästhesisten erforderlich mache. Das Spital würde mit diesem Ausbau ermöglichen, Patienten noch besser von Spezialärzten betreuen und behandeln zu lassen. Diese Nachricht löste in mir jedoch eher Skepsis als Freude aus. Ich stellte mir all die Diagnosen vor, welche nun gestellt werden und Operationsfolgen haben müssen, damit sichergestellt ist, dass sich diese baulichen Investitionen auch lohnen und der Markt weiter und immer besser floriert.

Kaum hatte ich diese Gedanken etwas verdaut, habe ich die Meldung in den Medien gefunden, dass Bund und Kantone aufgrund des Ärztemangels, der vor allem bei den Hausärzten sichtbar wird, bis 2018 pro Jahr 300 Ärzte mehr ausbilden wollen. Vor dem Hintergrund, dass der Nachschub aus Deutschland langsam versiegt und man offenbar demjenigen aus dem Ostblock in Bezug auf seine Kompetenzen nicht so traut, eigentlich logisch, oder?

Für mich nicht, denn als Bildungswissenschaftlerin ich frage mich Grundsätzlicheres: Erstens: Wie wählt man diese zusätzlichen 300 aus? Tatsache ist ja, dass die Nachfrage nach einem Medizinstudium gross ist. Für die diesjährigen Prüfungen an den Universitäten Basel, Bern, Freiburg und Zürich haben sich 3‘120 Personen eingeschrieben, die einen Studiengang in Humanmedizin absolvieren wollen, aber nur 632 Ausbildungsplätze sind zur Verfügung gestanden. Neu wären es somit etwa 932 Plätze. Lockert man also angesichts des Ärztemangels einfach die x-Prozent, welche die Prüfung jeweils nicht bestehen? Haben zukünftig somit einfach etwas mehr Kandidaten Glück? Zweitens: Wie bringt man diese zusätzlichen 300 dazu, nicht den Weg in die Spitzenmedizin einzuschlagen, sondern – wie dies Bundesrat Alain Berset möchte – in die Hausarztmedizin? Durch einen Eignungstest, so wie dies die SUK (Schweizerische Universitätskonferenz) plant? Nur, kann man denn Merkmale bestimmen, über die eine Zwanzigjährige verfügen muss, damit sie eine geeignete Hausärztin wird? Und wie verhindert man ihren Abgang in die Spitzenmedizin?

Empirische Tatsache ist, dass immer mehr Studenten und Studentinnen Spezialärzte werden wollen, weil sie diese Bereiche besonders attraktiv finden und als Neurochirurgen, Urologen oder Anästhesisten viel mehr verdienen als Hausärzte (und auch Psychiater!). Die fehlende Attraktivität des Hausarztberufs liegt meines Erachtens aber weniger am Salär, sondern viel mehr an den Vorgaben, welche das Tätigkeitsfeld und damit die Attraktivität beschränken. Zudem ist die Arbeitsbelastung speziell auf dem Land hoch, so dass das Einkommen teilweise mit Arbeitswochen von 80 Stunden erzielt wird.

Vom Spitalbett aus erinnerte mich die ganze Debatte etwas an die wissenschaftliche Frauenförderung: Trotz enormen Anstrengungen und vielen Programmen für die Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses ist bisher jede Schweizer Universität weit davon entfernt, den Anteil der Professorinnen auf 25% erhöht zu haben. Die Politik hat nicht erkannt, dass es eben kein lineares Kontinuum insofern gibt, als man das, was man plant, einfach so umsetzen kann und dass das dann auch so wirkt, wie man will. Die Gesellschaft hat ihre eigenen Entwicklungsgesetze. Und ich denke, die gelten auch für die Medizin. 

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