«Was ist mit unseren Lehrlingen los?`Tausende brechen ab» Weshalb solche Titel falsch sind
In letzter Zeit haben «Lehrabbrüche» eine hohe mediale Aufmerksamkeit erlangt. In grossen Lettern war jeweils zu lesen: «Was ist mit unseren Stiften los? Jeder vierte Lehrling schmeisst den Bettel hin» oder «Lehrlinge im Stress – Tausende brechen ab!». Solche Aussagen machen erstens Glauben, die Situation sei absolut dramatisch und zweitens, einzig die Jugendlichen seien es, welche die Ausbildung abbrechen. Auf diese Weise wird ein Bild provoziert, wonach Lehrlinge nicht mehr durchhaltefähig sind, schneller aufgeben und keine unangenehme Arbeit mehr verrichten wollen. Solche Zuschreibungen haben zwar einen wahren Kern, denn Jugendliche sind tatsächlich weniger widerstandsfähig als früher. Trotzdem lenken mediale Botschaften, die verallgemeinernd von «Lehrabbrechern» sprechen, den Blick in eine zu einseitige Richtung. Denn auch Betriebe können zu «Lehrabbrechern» werden, wenn sie schlechte Ausbildungsbedingungen bieten oder es ihnen nicht gelingt, schwierige Situationen mit den Lehrlingen zu meistern. Dazu kommt, dass lange nicht alle Vertragsauflösungen zugleich Ausbildungsabbrüche sind. Wir sollten deshalb mit dem Begriff viel sorgfältiger umgehen und ihn vom Begriff «Lehrvertragsauflösungen» unterscheiden:
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- «Lehrvertragsauflösung» meint die Beendigung eines Vertragsverhältnisses durch den Ausbildungsbetrieb, die auszubildende Person oder in gegenseitigem Einvernehmen vor Ablauf der vereinbarten Ausbildungszeit.
- «Lehrabbruch» bezeichnet das vorzeitige Beenden einer anerkannten Ausbildung, ohne dass eine neue Ausbildung folgt.
Im Gegensatz zu Deutschland, wo detaillierte Statistiken vorliegen, verfügen wir hierzulande noch nicht über umfassenden Daten*. Von besonderem Interesse ist deshalb das Projekt «Lehrvertragsauflösungen im Kanton Bern»** von Barbara E. Stalder und Evi Schmid sowie ihre Dissertation «Kritisches Lebensereignis, Lehrvertragsauflösung»***. Diese flächendeckenden Studien zeigen, dass jährlich zwischen 10% und 40% aller Lehrverträge vorzeitig aufgelöst werden. Die höchsten Auflösungsquoten haben die Berufe Koch, Bäcker/Konditor, Servicefachangestellte, Verkäufer oder Maurer. Zudem sind ausländische Jugendliche von Lehrvertragsauflösungen deutlich häufiger betroffen als einheimische Jugendliche. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind jedoch gering. In kleinen Betrieben kommt es häufiger zu Lehrabbrüchen als in mittleren und grossen Betrieben. Entscheidungen zur Lehrvertragsauflösung dauern im Durchschnitt 96 Tage.
Die Ursachen von vorzeitigen Vertragsauflösungen sind vielfältig. Sie liegen in
- •der Selektion der Lehrlinge durch den Ausbildungsbetrieb: Auswahl in letzter Minute, unsorgfältige Selektion, Einstellung trotz Bedenken.
- den Ausbildungsbedingungen im Lehrbetrieb: Fehlendes Lob und mangelnde Anerkennung, geringer Abwechslungsreichtum der Arbeit, fehlende pädagogische Kompetenzen der Ausbildner und Ausbildnerinnen.
- den mangelhaften Leistungen der Jugendlichen: Geringes Interesse, falsche Berufswahl, fehlende Arbeitstugenden und Umgagngsformen, mangelnde Eigeninitiative, ungenügendes Arbeitstempo.
- einer möglichen Unterforderung: Dies macht etwa in 5% der Fälle den Hauptgrund für die Vertragsauflösung aus. Solche Jugendlichen verzeichnen somit eine «Vertragsauflösung nach oben», wechseln sie doch unmittelbar im Anschluss an die Lehrvertragsauflösung in eine Ausbildung höheren Anforderungsniveaus.
- psychischen und anderen Problemen: Krankheit, Unfall, Probleme mit den Eltern oder Suchtprobleme.
Die beiden Studien weisen auch nach, dass gut 40% der Jugendlichen bereits im ersten Monat nach der Vertragsauflösung wieder in einer Ausbildung sind; ein Jahr danach 60%, zwei Jahre danach 70%. Wer somit lediglich seinen Lehrvertrag auflöst und allenfalls das Berufsfeld wechselt, ist in einer durchaus positiven Situation. Vielleicht handelt es sich dabei um eine späte Korrektur einer frühen Ausbildungsentscheidung. Gerade wer den Wunschberuf nicht realisieren kann, nimmt vielleicht die erst beste Lehrstelle an, um dann möglichst schnell zu wechseln – beispielsweise eben mittels einer Lehrvertragsauflösung.
Für die Betriebe ist zwar jede Vertragsauflösung kostspielig und problematisch, weil sie möglicherweise auch mit einer geringeren Ausbildungsbereitschaft verbunden ist, für die Jugendlichen kann sie jedoch auch positive Folgen haben. Die Aussage, wonach Tausende von Lehrlingen abbrechen, ist somit grundsätzlich falsch und wird dem komplexen Problem nicht gerecht. Wenn 70% der Lehrvertragsauflösungen wieder in eine neue Ausbildung führen, dann ist es viel zu dramatisierend, alle diese Jugendlichen als «Ausbildungsabbrecher» zu bezeichnen. Dramatisieren sollten wir hingegen die Situation der ca. 30% der Jugendlichen, welche auch zwei Jahre nach der Vertragsauflösung keinen neuen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie gehören in der Tat zu einer Risikogruppe, welche in der berufbildungspolitischen Agenda höchste Aufmerksamkeit erfordert.
*Das Bundesamt für Statistik stellt solche Daten auf Ende 2016 in Aussicht.
*Stalder, B. E. & Schmid, E. (2012). Zurück zum Start? Berufswahlprozesse und Ausbildungserfolg nach Lehrvertragsauflösungen. In M. M. Bergmann, S. Hupka-Brunner, T. Meyer & R. Samuel (Hrsg.), Bildung – Arbeit - Erwachsenenwerden (S. 265-286). Wiesbaden: Springer.
***Schmid, E. (2010). Kritisches Lebensereignis ‚Lehrvertragsauflösung’. Eine Längschnittuntersuchung zum Wiedereinstieg und zum subjektiven Wohlbefinden betroffener Jugendlicher. Bern: hep.
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