Darf man Kinder aus Restaurants aussperren?

erschienen in: NZZ am Sonntag, 31.03.2019

 

«Ein Land mit Kindern ist ein Land mit Zukunft.» Mit diesem Satz hat kürzlich ein Politiker sein Plädoyer für eine bessere Familienpolitik beendet. Gleichentags las ich in einer Zeitung unter dem Titel «No Kids please!» einen Beitrag zum Trend von immer mehr Restaurants, Kinder auszusperren. Solche Gegensätze sind ein seltsamer Ausdruck unserer Gesellschaft, zunehmend Menschengruppen voneinander zu trennen, während alle Welt sich mit Begriffen wie Diversität oder Generationenhäusern schmückt.

Weshalb wachsen Kinder heute so grenzenlos auf?

Zwar kann man Kinder als unsere Zukunft bezeichnen, trotzdem haben sie auch einen schlechten Ruf. Die Forderung nach kinderfreien Zonen ist deshalb ein heisses Eisen. Die Meinungen sind geteilt, doch läuft mit Sicherheit etwas falsch, wenn ein Kind mit Schokofingern die Sitzbank des Restaurants verschmiert. Insbesondere dann, wenn die Eltern nicht einschreiten und so tun, als ob diese Kleckerei die normalste Sache der Welt sei. Greifen Restaurant-Betreiber ein, dann wahrscheinlich kaum, weil sie Kinderhasser sind, sondern weil sie Schaden abwenden wollen.

Leider ist das Thema der kinderfreien Zonen eine Arena geworden, in der vor allem moralisiert wird. Diese Moralisierung verhindert, dass die vielleicht wichtigste Frage unberücksichtigt bleibt: Weshalb wachsen Kinder heute so grenzenlos auf? Warum erlauben ihnen die Eltern, sich überall frei zu entfalten und ihre Bedürfnisse kund zu tun?

Erziehung als kommunikative Anregung zur Selbsterziehung

Erstens, weil sich das Bild des Kindes enorm gewandelt hat. Galt es bis in die 90er Jahren als widerstands- und anpassungsfähig, überwiegt heute seine Verletzlichkeit, weshalb es keinen Enttäuschungen oder Konflikten ausgesetzt werden soll. Parallel dazu hat der Begriff vom «Vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt» im pädagogischen Feld und in den Köpfen vieler Eltern Einzug gehalten. Erziehung wird deshalb nicht mehr so sehr als Einwirkung, sondern als kommunikative Anregung und Herausforderung zur Selbsterziehung verstanden und praktiziert.

Gegenüber den angstbesetzten Beziehungsstrukturen früherer Generationen ist das ein grosser Fortschritt, denn autoritäre Eltern hätten dem kleinen Schokofinger im Restaurant vermutlich sofort eins hinter die Ohren verpasst. Doch der Trend zum Verhandlungshaushalt hat Einiges ins Gegenteil verkehrt, so dass sich viele Eltern nur noch als «Flugbegleiter» (Jesper Juul) verstehen, das Kind zum kleinen König machen und sich kaum mehr getrauen, es zu er-ziehen und dadurch eine Distanz zu ihm herzustellen.

Der zweite Grund liegt in den Familienstrukturen. Partner kommen und gehen, das Kind bleibt. Es ist sogar das einzig Stabile, das Kontinuität über das ganze Leben verspricht, wie dies beim Partner möglicherweise nicht der Fall ist. Das Kind wird zum Glückserfüller, von dem Eltern abhängig werden. Gleichzeitig machen sie sich Sorgen, ihre Disziplinierungsmassnahmen könnten negative Auswirkungen haben und dazu führen, dass sie seine Liebe verlieren. Deshalb betrachten sie es als verlängerten Arm von sich selbst und tun alles dafür, dass das so bleibt.

Kinder gehören auch in ein Restaurant - damit sie Regeln und Normen kennenlernen

Doch schon Friedrich Schleiermacher hat gesagt, dass nicht nur Behütung und Unterstützung wichtige Komponenten einer guten Erziehung sind, sondern auch die «Gegenwirkung». Heute nennt man das autoritative Erziehung. Sie zeichnet sich durch Liebe, Wertschätzung und Achtung aus, aber ebenso durch die Vorgabe von Regeln und eine klare Trennung zwischen Erwachsenen- und Kinderebene. Ist die Aussperrtaktik von Restaurants deshalb nicht auch ein Schlag ins Gesicht der Eltern, welche ihre Kinder so erziehen?

Bei allem Verständnis für Gastronomen: Kinder gehören auch in ein Restaurant. Teil der Erziehung ist es, dass sie an verschiedenen Orten sozialisiert werden, also nicht nur zu Hause oder in Kita, Kindergarten und Schule, sondern auch in der Arztpraxis, im Museum, im Bus – und auch im Restaurant. Kinder sollen die Regeln und Normen kennenlernen, welche an diesen unterschiedlichen Orten gelten. Deshalb wäre der kleine Schokofinger sofort, aber liebevoll in seinem Tatendrang unterbunden worden und die Eltern hätten sich beim Restaurantbetreiber entschuldigt. Zu Hause würde der Knirps dann nicht einfach in einen der boomenden Knigge-Kurse geschickt, sondern mit ihm der nächste Besuch so vorbereitet und eingeübt, dass er nun weiss, was im Restaurant gilt und was sich vom häuslichen Wohnzimmer unterscheidet.

Eltern dürfen ihre Kinder uneingeschränkt toll finden, aber sie sollen ihnen Regeln mit auf den Weg geben, die immer und überall oder auch nur an spezifischen Orten gelten. Dann müsste es nicht harzen, wenn mehrere Generationen oder Fraktionen unterschiedlicher Lebenseinstellungen zusammentreffen.

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