Die Suche nach dem defekten Kind
Haben Sie Kinder, die noch Masern oder Mumpf gehabt haben oder gehörten Sie selbst einmal zu diesen kleinen Patienten? Dann können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie noch wissen, was eine "richtige" Kinderkrankheit ist. Heute heissen sie Wahrnehmungs-, Entwicklungs- oder Sprachstörung.
Die neusten Studien, die ich letzte Woche zu Gesicht bekommen habe, zeigen, dass mindestens 60% der Kinder im Primarschulalter bereits eine Therapie hinter sich haben. Etwa ein Drittel der Sechsjährigen gehen in eine Sprach-, Ergo- oder andere Therapie. Dann kommt noch die ADHS-Diagnose dazu, die heute ca. 5% der Kinder betrifft. Mindestens eins von zehn Kindern war schon in psychotherapeutischer Behandlung, und mehr als 10% leiden an Schul- und Prüfungsangst. Tendenz steigend. Man mag zwar einwenden, dass es doch ein unglaublicher Fortschritt ist, wenn man heute solche differenzierten Diagnosen stellen und all die Störungen therapieren kann. Das stimmt sicher teilweise, doch fragt sich, ob es nicht einfach der zunehmende Leistungsdruck der Schule ist, welcher dieses Phänomen verantwortet.
Dieser ist meines Erachtens jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die, dass heutige Eltern eine maximale Erwartungshaltung an ihre Kinder und auch Ärzte eine gewisse Sucht für die Diagnose entwickelt haben. Die Suche nach kindlichen Defekten ist übermächtig geworden – obwohl die ganze Welt von Ressourcenorientierung spricht. Die Kinder selbst haben sich in den letzten Jahren nur wenig verändert. Verändert hat sich vor allem unsere Vorstellung darüber, was ‚normal‘ ist. Dass diese sehr eng ist, zeigt sich daran, dass jegliche Variation der Norm sogleich als pathologisch erklärt wird. Eltern wollen sie sogleich behoben haben. Sie bringen ihr Kind zum Spezialisten so wie das Auto in die Garage zum Service.
Ein Grundproblem sind die vielen Abklärungstests. Sie beginnen schon bald, nachdem die Schwangerschaft festgestellt worden ist. Nackenfaltenmessung, Fruchtwasserpunktion, monatliche Ultraschalluntersuchungen – vor zwanzig Jahren waren sie nur bei Risikoschwangerschaften angesagt. Heute, so heisst es, seien sie bei allen Kindern nötig, um ganz sicher zu sein, dass alles gut kommt. Ganz sicher?
Sicher nicht, denn erstens weiss die Medizin zur Genüge, dass man sehr schnell eine Störung mit einem Test finden kann, wenn man auf etwas Bestimmtes fokussiert. Haben Sie beispielsweise schon einmal einen ADHS-Fragebogen angeschaut? Wenn ich an unsere Kinder zurückdenke und ihn ausfülle, dann hätten beide unserer Kinder ein ADHS gehabt.
Leider läuft auch Vieles mit der so genannten Sprachförderung schief. Obwohl sie grundsätzlich sehr notwendig ist, um Kinder gut auf den Schuleintritt vorzubereiten, hat diese Entwicklung zu einer Heerschar an Instrumenten zur ‚Sprachstandsfeststellung‘ geführt, die vor allem den Nachweis liefern, dass Kinder ‚Therapiebedarf‘ haben und dann etikettiert werden. So wird beispielsweise kaum unterschieden, ob ein Kind lediglich einen Entwicklungsrückstand hat und deshalb einer temporären Förderung bedarf oder ob es sich um eine Störung handelt, welche eine Therapie erforderlich macht.
Wie die beiden Kinderärzte Thomas Baumann und Romedius Alber schreiben, löst jede Diagnose etwas aus – und fast immer etwas Negatives. Die Suche nach dem defekten Kind hat deshalb vor allem dazu geführt, dass unser System heute mehr kranke als gesunde Kinder produziert. Müsste uns dies nicht mehr zu denken geben?
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