Das Studium als Statussymbol
erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 02.12.2020, 2
Wer Hebamme werden will, braucht eine Matura. Viele internationale Unternehmen wollen nur noch Leute mit einem Hochschulabschluss einstellen. Die Schweiz braucht mehr akademische Power! Dies ist zumindest der gegenwärtige Entwicklungstrend.
Ein höheres Qualifikationsniveau breiter Bevölkerungsschichten ist erstrebenswert, denn viele Berufe sind komplizierter geworden. Wer Automechaniker werden will, kann nicht mehr schräubeln und zusammensetzen. Heute müssen Automobil-Mechatroniker die ganze Elektronik verstehen, um etwa ein Airbag-System zu reparieren. Dieser anspruchsvolle Beruf braucht keine Matura. Er ist das beste Beispiel dafür, dass wir nicht pauschal mehr akademisch Gebildete brauchen, wohl aber gut ausgebildete Fachkräfte. Trotzdem dominiert die Überzeugung, nur Akademisierung garantiere das berufliche Können.
Der Begriff Akademisierung lässt kaum jemanden kalt. Seine magische Bedeutung dürfte einer der Hauptgründe sein, weshalb Probleme nicht gern diskutiert werden. Eines davon ist die falsche Gleichsetzung von Akademisierung und Professionalisierung. Deshalb dominiert die Überzeugung, Professionalisierung – nennen wir sie berufliche Handlungskompetenz – könne am besten über eine akademische Ausbildung erreicht werden.
Dahinter stecken beinahe elitäre Züge. Dass die Quote der unter 35jährigen Professorinnen und Professoren bereits auf über 15 Prozent gestiegen ist, wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, weil dadurch die Professionalisierung in der Akademia gesichert sei. In der Berufsbildung machen ähnliche Beispiele viel weniger Eindruck. Etwa die junge Frau, die sich von einer mittelmässigen Realschülerin zu einer Bau-Polierin in einem Grossunternehmen hochgearbeitet hat, die Bauunternehmung auf der Baustelle vertritt und vorwiegend männliche Mitarbeitende führt.
Warum diese Einseitigkeit? Weil die Akademisierungseuphorie blinde Flecken hat. Zwar wird überall betont, man wolle jegliche Akademisierung vermeiden. Die Swissness unseres Bildungssystems ermögliche, dass jeder und jede über eine Berufslehre an einer Fachhochschule studieren und sogar an die ETH wechseln könne. Hinter dieser Argumentation steckt eine paradoxe Botschaft: dass eine Laufbahn letztendlich doch in ein Studium münden sollte. Eine Polierin mit einer höheren Berufsbildung ist deshalb kaum der Rede wert.
Die Achillesferse des Akademisierungsbooms ist die vergessene höhere Berufsbildung. Sie vermittelt Qualifikationen, die zur Ausübung einer anspruchs- und verantwortungsvollen Berufstätigkeit erforderlich sind. Und sie versorgt die Wirtschaft mit ausgewiesenen Fachkräften in Technik, Gastgewerbe, Landwirtschaft, Gesundheit und Sozialem, Gestaltung oder Verkehr. Zwar sind wir auf die Professionalisierung solcher Berufsleute angewiesen, trotzdem muss die höhere Berufsbildung inmitten der Akademisierungswelle um ihren Platz kämpfen. Und dies, obwohl sie durchgehend Lob bekommt und junge Menschen beste Chancen haben, Karriere zu machen und gutes Geld zu verdienen.
Diese Entwicklung ist eine wesentliche Ursache dafür, weshalb in vielen Elternhäusern ein Studium als Mass der Dinge und als Statussymbol gilt. Doch dies ist nicht nur ein Irrglaube, sondern ein Mythos. Wenn ein Sohn einer Geisteswissenschaftlerin Maurer wird, eine höhere Berufsbildung als Bauleiter absolviert und sich später selbständig macht, hat er beste Chancen, seine Mutter einkommens- und karrieremässig zu überholen. Doch auch hier kommt der Bildungssnobismus zum Zug, denn in den Statistiken und auch in den Berichten der OECD wird ein solches Beispiel als «Bildungsabstieg» bewertet.
Die Bildungspolitik täte gut daran, der Akademisierungseuphorie und ihren ungewollten Folgen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Eine gute Bildung ist die wichtigste Ressource für die Zukunft junger Menschen. Doch Bildung hat viele Facetten. Nur eine ist die Akademia.
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