Drei Schritte für den Bildungsaufstieg
TEIL II des Essays im Folio der NZZ, 03.05.2021, S. 58-61
Noten als Aufstiegsbedingung Nummer eins
Jenseits der unterschiedlichen familiären Bildungsentscheidungen erzeugt unser Zeitgeist ein Bildungsparadox, das der Soziologe Ulrich Beck als Fahrstuhleffekt bezeichnet hat. Gemeint ist das Phänomen, wonach trotz der Erarbeitung eines kollektiven Mehrs an Einkommen, Bildung, Recht und Massenkonsum unsere Gesellschaft zwar eine Etage höher gefahren ist, der Abstand zwischen den Schichten aber nicht verkleinert worden ist. Der Akademisierungstrend und die Entwertung von Bildungsabschlüssen haben diesen Fahrstuhleffekt im letzten Jahrzehnt weiter verstärkt. In dem Masse, wie der Bedarf nach Bildung und der Zustrom zu den Gymnasien wächst, sinkt ihr Wert. Der Trend zum Gymnasium führt deshalb auch dazu, dass es für alle immer enger wird, für Arbeiterkinder sowieso, aber auch für Kinder aus bildungsambitionierten Mittelschichtfamilien, die sich einer immer grösseren Konkurrenz aus den eigenen Reihen gegenübersehen. Wenn sich alle ähnlich verhalten und mehr in ihre Ausbildung investieren, zählt auch die beste Leistung weniger als bisher. Der Soziologe Heinz Bude hat diesen Sachverhalt an einem Beispiel veranschaulicht: Wenn im Fussballstadion alle aufstehen, um besser aufs Spielfeld zu sehen, sieht niemand besser, als wenn alle sitzen.
Noten sind nach wie vor die Aufstiegsbedingung Nummer eins. Auch Lehrkräfte sind oft überzeugt, der Übertritt ins Gymnasium hänge von den Noten ab, weshalb die Entscheidung einfach sei. Zu selten wird berücksichtigt, wie sie zustande kommen. Arbeiterkinder werden gemäss verschiedenen Forschungsstudien bei gleichen Kompetenzen deutlich strenger bewertet als Kinder aus der Mittelschicht. Manchmal würden ihnen sogar die notwendigen kognitiven Fähigkeiten fehlen, so ein Ergebnis der Untersuchungen von Elsbeth Stern, Intelligenzforscherin an der ETH. Sie weist nach, dass ein Drittel aller Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, gemessen an ihrem Intelligenzquotient (IQ), nicht für eine Gymnasium geeignet ist. Andererseits geht sie von möglicherweise bis zu zehn Prozent der Jugendlichen aus, die nicht das Gymnasium besuchen, aber über einen IQ verfügen, der sie für diesen Schultyp qualifizieren würde. Dies ist auch ein Ergebnis unserer Längsschnittstudie «Hochbegabte Lehrlinge in der Berufsbildung», in der fast acht Prozent der untersuchten Jugendlichen nicht nur einen überdurchschnittlichen IQ aufwiesen, sondern auch manche von ihnen über akademisch orientierte Neigungen verfügten und für den Besuch eines Gymnasium prädestiniert gewesen wären.
Arbeitereltern unterschätzen ihre Kinder
Der IQ ist nicht das Mass aller Dinge, denn gemäss der Expertiseforschung sprechen viele Indizien dafür, dass Lebenskompetenzen wie Fleiss, Durchsetzungsfähigkeit oder Frustrationstoleranz für den langfristigen Bildungserfolg ebenso bedeutsam sind. Doch die massive Übervertretung von Akademikerkindern an Gymnasium ist auch ein Ergebnis der Berücksichtigung von sozialer Herkunft und Elternerwartungen. Dies ist keine neue Erkenntnis, aber auf die zu reagieren der Bildungspolitik manchmal schwerfällt. Es heisst dann, Lehrkräfte sollten einfach weniger selektiv benoten, dann sei das Problem gelöst. Doch Noten sind grundsätzlich anfällig für Verzerrungen, weshalb das Problem kaum in der persönlichen Verantwortung der Lehrkräfte liegt.
Bereits wenige externe Parameter genügen, damit Arbeiterkinder beim Übertritt ins Gymnasium schlechtere Karten haben. Neben der vorausgesetzten Elternunterstützung bei den Hausaufgaben sind es vor allem die familiären Förderressourcen sowie die externe Lernunterstützung. Dazu kommen das selbstbewusste Auftreten höher gebildeter Eltern und ihre Rekursaffinität. Eine Freiburger Studie Franz Baeriswyl und seinem Team weist zudem nach, dass Akademikereltern ihre Kinder eher überschätzen, währendem für Arbeitereltern das Gegenteil gilt. Sie attestieren ihren Kindern bei vergleichbaren Fähigkeiten geringere Begabungen und empfinden die schlechtere Beurteilung durch die Lehrperson nicht als ungerecht.
Solche Parameter sind Störfaktoren, welche die Qualität jedes Übertrittsverfahrens schwächen. In Kantonen mit einem grossen Mitspracherecht der Eltern ist die soziale Selektivität beim Übertritt ans Gymnasium grösser als in Kantonen, in denen die Schule den Übertrittsentscheid allein fällt oder er auf einer Aufnahmeprüfung basiert. Aber auch beim Modell der Aufnahmeprüfung wirkt der «Elternwille» in Form von vielen zusätzlichen, in die Prüfungsvorbereitung investierten Förderstunden bildungsambitionierter Familien.
Die Dirigierfunktion des Auswahlverfahrens hat weit reichende Konsequenzen, weil der Übergang ins Gymnasium das wohl wichtigste Nadelöhr für die bessere Ausschöpfung der intellektuellen Begabtenreserven von Arbeiterkindern ist. Doch bis heute steht kein gerechtes Auswahlverfahren zur Verfügung. Ob notenbasierte Lehrerempfehlung und Elternmitspracherecht oder eine Prüfung - es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass das eine oder andere Verfahren zu einem Abbau der sozialen Ungleichheit führt. Weder mit einer seriösen Handhabung der Noten respektive einem wissenschaftlich durchdachten System kann man den Übertrittsentscheid gerecht gestalten, sondern lediglich fairer. Welches Übertrittsverfahren gewählt wird, bleibt deshalb eine politische Glaubensfrage.
Die drei Schritte zum Bildungsaufstieg
Wie kann unsere Gesellschaft vor diesem düsteren Hintergrund mehr Bildungsaufstiege ins Gymnasium ermöglichen? Grundsätzlich könnte man die beliebte Forderung unterstützen, dass es hierfür grosse Anstrengungen in der Sozial- und Bildungspolitik braucht und keine «Alibi-Reförmchen». Doch inzwischen gilt es als unhinterfragte Tatsache, dass nicht in erster Linie die Bildungsausgaben eine zentrale Rolle spielen (die Schweiz nimmt hier bekanntlich einen Spitzenplatz ein), sondern die Einstellung von Leitungsgremien sowie Lehr- und Fachkräften an Schulen. Deshalb plädiere ich für eine bescheidene und kostengünstige Variante, die sich auf die Mentoratsfunktion von Erwachsenen konzentriert und im Hier und Jetzt umsetzbar ist. Die Forschung belegt mit einiger Eindeutigkeit, dass intellektuell begabte und akademisch interessierte Arbeiterkinder ganz besonders auf die Unterstützung solcher Personen angewiesen sind. Damit sind keineswegs ausschliesslich Lehrerinnen und Lehrer gemeint, sondern auch Trainerinnen und Trainer im Sport, Musiklehrkräfte, Pfarrpersonen, in der schulischen Sozialarbeit Tätige und Beraterinnen und Berater. Da Arbeiterkindern soziale Aufstiegsmodelle fehlen und ihnen oft das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten fehlen, hängt der Erfolg nicht unwesentlich von der Unterstützung solcher Personen ab, die an die Stelle der Eltern als «signifikante Andere» ins Spiel kommen.
Ihre Haltungen und Einstellungen sind wichtiger als jede grosse Reform – aber nur dann, wenn sie gegenüber Arbeiterkindern herausfordernd und ambitiös sind, damit das Gymnasium eine echte Option werden kann. Der Weg zu solchen herausfordernden Haltungen bezeichne ich in Anlehnung an die Studie von Thomas Spiegler als «die drei Schritte zum Bildungsaufstieg». Er umfasst das Dürfen, das Wollen und das Können.
Das Dürfen zu fördern ist die wichtigste und grundlegendste Aufgabe von Mentorinnen und Mentoren. Sie haben eine Schlüsselfunktion, wenn sie Arbeiterkinder ermuntern, sich ihres Potenzials überhaupt bewusst zu werden, sie darin unterstützen, Aspirationen zu entwickeln und an Visionen zu glauben. «Du schaffst das!» ist für den Aufstiegsverlauf vielleicht entscheidend. Das Wollen gehört ins Repertoire von Lehrkräften und schulischer Beratung. Gemeint ist damit, dass sie die Aufstiegsmöglichkeit Gymnasium konsequent mitbedenken, sich nicht der Skepsis von Arbeitereltern anschliessen und deshalb das Negativlabeling «Lieber ein guter Sekschüler als ein schlechter Gymnasiast» vermeiden. Wie oft hört man gut gemeinte Ratschläge, solchen Kindern müsse man ein realistisches Bild vermitteln, wie hoch die Ansprüche am Gymnasium seien, um sie vor dem Scheitern zu bewahren. Die vielleicht schwierigste pädagogische Aufgabe haben Lehrerinnen und Lehrern, wenn es um das Können geht. Wollen sie das Können objektiv erfassen, dann kommen sie nicht darum herum, die Leistungen als Ergebnis von Anstrengung und Übung und nicht von sozialer Herkunft und familiärer Unterstützung zu betrachten. Solche Lehrkräfte stellen darum Lernprozesse und Fähigkeiten in den Mittelpunkt und nicht die Produkte in Form von Noten oder die Ressourcen der Herkunft.
Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit
Das Gymnasium muss eine Bildungsinstitution für intellektuell begabte junge Menschen jeglicher Herkunft werden. Deshalb muss unsere Gesellschaft das Ziel der Chancengerechtigkeit verfolgen, definiert als die Ermöglichung und Unterstützung fairer Chancen bei der Überwindung von Nachteilen und die Ausrichtung auf die Entdeckung von Potenzialen. Wer sich an einem solchen Verständnis von Chancengerechtigkeit orientiert, bekennt sich dazu, dass soziale Selektivität kein unabänderliches Schicksal ist und Neigungen sowie Fähigkeiten den Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben müssen und nicht die soziale Herkunft oder familiäre Förderressourcen.
Wenn dem so wäre, dann sind in der Berufsbildung zukünftig mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien vertreten, in den Gymnasien jedoch mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiterfamilien. Dies zu bewerkstelligen ist eine der grossen bildungspolitischen Herausforderungen der Zukunft.
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