In die Hochleistungsgesellschaft gepusht: Das schwierige Leben der Kinder, von denen man zu viel erwartet

Besonders fleissig, gute Noten und beliebt – ein solches Kind ist der Traum mancher Lehrkräfte und Eltern, denn es hat scheinbar beste Aussichten auf eine besonders erfolgreiche Bildungslaufbahn. Unsere Hochleistungsgesellschaft bietet hierfür perfekte Voraussetzungen: Sie setzt auf gute Schulen und Lehrkräfte, einen leistungsstarken Nachwuchs, auf hohe Bildungsabschlüsse und auf verantwortungsbewusste Väter und Mütter, die ihre Kinder fördern. Es ist mehr denn je en vogue, die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Kinder zu betonen.

Entwertung von Bildungsabschlüssen durch die Akademisierung

Solche Trends haben Auswirkungen auf unser Bildungssystem. Einen wesentlichen Anteil an der zunehmenden Leistungs- und Wettbewerbsorientierung haben Leistungsstudien wie PISA, TIMMS, IGLU und wie sie alle heissen. Angesichts dem teilweise lediglich mittelmässigen Abschneiden der Schülerinnen und Schüler begann die Bildungspolitik unentwegt vor den Auswirkungen dieser Mittelmässigkeit zu warnen, d.h. vor dem Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und dem Abbau des gesellschaftlichen Wohlstands. In den Schulen werden nun zunehmend Vergleichstests etabliert, und in Kindergärten den Elterngesprächen mehrseitige Standortbestimmungen zugrunde gelegt.

Parallel dazu sind im Zuge von Akademisierung und Bildungsexpansion viele Abschlüsse entwertet worden. Hauptschul- und Realschul-Zeugnisse zählen viel weniger als noch vor ein paar Jahren. Auch Studienabschlüsse sind zwar wichtiger, aber weniger wert. Ein Bachelor ist heute Voraussetzung für viele Berufe, aber längst keine Karrieregarantie mehr.

Angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklungen ist es nachvollziehbar, dass sich auch Familien so verhalten, wie dies die Bildungspolitik erwartet. Das überdimensioniert scheinende Engagement von Vätern und Müttern ist eine nachvollziehbare reaktive Strategie, um sich zumindest ein wenig gegen die Zukunftsängste stemmen zu können. Und weil die Schule eine »verantwortete Elternschaft« voraussetzt – etwa die Kontrolle von Hausaufgaben, die Unterstützung bei der Erstellung von Referaten und Power-Point-Präsentationen oder die Vorbereitung auf eine Prüfung – ist sie auf die Maximierer- und Optimiererrolle der Eltern angewiesen.

Normale Kinder sollen grosse Talente werden

Kinder, die in Schule und Elternhaus auf Leistungsfähigkeit getrimmt werden, sind nicht selten Überleister. Überleister oder Overachiever sind junge Menschen, die mehr leisten als man von ihnen aufgrund ihrer Fähigkeiten erwarten würde. Sie erbringen Hochleistungen, weshalb sie fälschlicherweise oft als hochbegabt bezeichnet werden. Doch sie erreichen ihre Erfolge nicht aufgrund eines hohen Intelligenzquotienten (IQ), sondern mit enormem Fleiss, Elternunterstützung, Ehrgeiz – und Leistungsdruck. Überleister gibt es öfters als man denkt, in Städten und Agglomerationen häufiger als in ländlichen Gebieten. Die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern geht davon aus, dass mindestens dreissig Prozent der Kinder, die ins Gymnasium eintreten, aufgrund ihres ungenügenden IQs »eigentlich gar nicht ins Gymnasium gehören«*. Auch jenseits des Gymnasiums finden sich überleistende Kinder, etwa die Langsamlerner mit deutlichen Leistungsschwächen, deren Eltern aber trotzdem mit allen Mitteln auf ein höheres schulisches Anspruchsniveau pochen. Bekannt sind Überleister auch in Sport und Musik. Hier ist der Wunsch gross, aus kleinen Kindern grosse Talente zu machen, und manche Familien sind besonders davonangetan, dass aus ihrem normalen Kind ein aussergewöhnliches Kind wird.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Leistungsorientierung und hohe Erwartungen von Lehrkräften und Eltern sind für eine gute schulische Laufbahn der Kinder wichtig – dies ist eine wissenschaftlich vielfach bestätigte Tatsache. Problematisch werden solche Haltungen dann, wenn sie zum wichtigsten Erziehungsziel der Familie werden, Schulen auf Leistung und Noten fixiert sind und Kinder zu Überleistern werden müssen - um zu funktionieren.

Überleistung als kulturelles Mandat

Kinder haben sich in den letzten Jahren wenig verändert, doch heute werden in Therapie, Beratung und Schule mehr Variationen der Norm als pathologisch erklärt und Ausreisser nach oben und unten zurechtgestutzt. Dies führt dazu, dass die Anzahl therapierter Kinder bis ins Unermessliche steigt. Oft hätten solche Kinder keine Therapie nötig, sondern lediglich eine unterstützende Haltung, dass sie »normal« sein dürfen und nicht Leistungen erbringen müssen, die sie überfordern. Doch die Überleisterkultur ist ein kulturelles Mandat geworden, das vom Bildungssystem auf Familie und Kinder übergegriffen hat und der Gesellschaft weis machen will, dass es normal ist, wenn Kinder Therapien brauchen.

Das schwierige Leben der Kinder, von denen man zu viel erwartet

Solche Gedanken sind Thema meines für 2022 geplanten Buches. Meine Hauptmotivation ist die Tatsache, dass unsere Gesellschaft fast ausschliesslich auf die Ausschöpfung des Leistungspotenzials und auf die Akademisierung von Ausbildungen fokussiert, kaum aber die tatsächlichen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen in den Blick nimmt und auch nicht fragt, was zu hohe Erwartungen für ihre Kraft und Motivation bedeuten. Überleistung ist ein bisher unberücksichtigtes, nahezu unerforschtes und ebenso verschwiegenes Thema geblieben**. Wohl gibt es Fachliteratur zu den problematischen Aufwachsbedingungen heutiger Kinder und Jugendlicher, zum Leistungsdruck und seinen Auswirkungen oder zu überehrgeizigen Eltern***.

Aber über das verborgene und schwierige Leben von Kindern, die Leistungen erbringen müssen, die eigentlich über ihrem Fähigkeitsniveau liegen, spricht niemand gern. Eher richtet man den Blick isoliert auf psychische Störungen und blendet dabei das Wichtigste aus: was die Kluft zwischen der Leistung und dem Aufwand dafür in unserer Gesellschaft anrichtet. 


* Siehe das Interview: https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/viele-eltern-ueberschaetzen-dieintelligenz-ihrer-kinder/story/24570705 sowie ihre Publikation: Stern, E. & Hofer, S. (2014). Wer gehört aufs Gymnasium? Intelligenzforschung und Schullaufbahnentscheidungen. In E. Wyss (Hrsg.), Von der Krippe zum Gymnasium. Bildung und Erziehung im 21. Jahrhundert (S. 41-54). Weinheim: Beltz.

** Im Gegensatz dazu wird »Minderleistung« (»Underachievement«) – Kinder, die aufgrund ihrer kognitiven Kompetenzen deutlich weniger leisten als man von ihnen erwarten würde – sehr wohl als Problem wahrgenommen, es ist relativ gut beforscht und in der Praxis viel diskutiert.

*** Beispiele sind die zersplitterte Welt zwischen Kita und Familie, die Eltern-Taxis und Mamas Überfürsorglichkeit, die Hausaufgabenunterstützung, die digitalen Medien etc. Siehe mein Buch »Lasst die Kinder los« (2017 bei Piper erschienen) oder Schulte-Markwort, M. (2016). Burnout Kids. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert. München: Knaur, S. 185ff. 

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