Kinder brauchen keine Supermütter: Der Mama-Mythos muss zur Debatte gestellt werden

erschienen in: NZZ, 20.07., 2020, 8.


Mutter sein und Kinder haben ist das grösste Glück, so will es die Gesellschaft. Doch eine Zukunft als Mutter macht manchen Frauen Angst. Und diejenigen, die sich dafür entscheiden, erfahren bald, dass die Erziehung von Kindern eine manchmal verschleissende 24/7-Aufgabe ist. Doch wer etwas Negatives über die eigene Mutterrolle oder die Kinder äussert, wird immer noch als Rabenmutter abgestempelt, weshalb die meisten Frauen ihre Sorgen oder Frustrationen lieber für sich behalten.

Unsere Gesellschaft ist einem Mutterideal verpflichtet, dem keine Frau genügen kann, auch wenn sie Vollzeit-Mutter wird. Doch wohin wir auch blicken, auf Glanz und Gloria, Social Media oder auf Influencerinnen, überall werden uns endlose Paraden perfekter Supermütter präsentiert. Sie machen uns glauben, dass sie ihre Kinder immer in den Mittelpunkt stellen, sie viel mehr als die Berufstätigkeit lieben und dass das Geld keine Rolle spielt, weil man es einfach hat.

Überbeanspruchung

Im Alltag der meisten Frauen sieht es anders aus. Zwar können Mütter ihre persönlichen Ambitionen haben und eigenes Geld verdienen, Kinder ohne Partner aufziehen, sich für eine Vollzeit-Mutterschaft oder eine Vollzeit-Berufstätigkeit entscheiden. Doch welches Modell sie auch wählen, sie sollten die Kinder immer priorisieren, auch wenn dies zur Überbeanspruchung führt.

Das Ideal der guten Mutter setzt auf eine noch nie in diesem Ausmass dagewesene Glorifizierung des Mütterlichen. Dieser «Mama-Mythos» ist mit normativen Vorgaben an ein perfektionistisches Mutterbild belegt, das die Frauen zugleich entzweit. In den letzten Jahren ist eine teilweise unheilvolle Konkurrenz zwischen Müttern entstanden. Viele Frauen wetteifern miteinander, wer die beste Mutter ist und die tollsten Kindergeburtstage schmeisst, die gesündesten Znünis einpackt, gleichzeitig auch noch toll aussieht und eine gute Figur hat. Und vor allem reagieren viele Mütter besonders sensibel auf Familienmodelle anderer Frauen, weshalb die oft zitierte weibliche Solidargemeinschaft in dieser Hinsicht nicht besonders stabil ist. 

Es wäre aber falsch, die Auswirkungen des Mama-Mythos ausschliesslich negativ zu diskutieren. Denn es ist nicht in erster Linie die Mütter-Konkurrenz der Frauen an sich, die zu negativen Begleiterscheinungen führen kann, sondern wie intensiv Mutterschaft praktiziert wird und ob der Vater als autonomer gleichberechtigter Partner akzeptiert wird.  Manchen Frauen, welche ein realistisches und nicht von Selbstaufgabe geprägtes Verständnis von Muttersein in einer egalitären Partnerschaft entwickeln, gelingt dieser Spagat. Doch in unserer Studie wehrt sich fast jede dritte Mutter offen oder verdeckt gegen zu viel Engagement des Partners. Sie nörgelt, wie er sich mit dem Kind beschäftigt oder gibt ihm wie einem Juniorpartner vor, was er im Haushalt wie zu erledigen hat – beklagt sich aber trotzdem über die Bürde ihres Mutterseins. «Maternal Gatekeeping» heisst dieses Phänomen in der Wissenschaft.

Reale und gefühlte Last

Problematisch ist das Ideal der intensiven, ausschliesslich am Kind orientierten Mama aus verschiedenen Gründen. Erstens weil in unserer Studie siebzig Prozent der berufstätigen Frauen angeben, die familiäre Hauptverantwortung zu tragen und sich deshalb nicht zurücklehnen oder das Engagement senken zu können. Sonst würde ihnen vorgeworfen, manchmal sogar von den eigenen Müttern oder Schwiegermüttern, die Kinder bekämen zu wenig Fürsorge und würden nicht gut erzogen. Fünfzig Prozent der Befragten haben ein wiederkehrend schlechtes Gewissen oder Gefühle des permanenten unter Druckseins, und viele lässt die gefühlte Last fast zusammenbrechen. Folgt man den zur Verfügung stehenden Daten, dann ist die Zahl der Mütter mit Erschöpfungssyndromen bis hin zum Burnout mit Schlafstörungen, Angstzuständen, Kopfschmerzen oder ähnlichen Symptomen in den letzten Jahren bis zu dreissig Prozent gestiegen.

Zweitens tut das Dogma der intensiven Mama den Kindern nicht gut, weil es oft in eine ungesunde Form von Überbehütung, Verwöhnung und dauernder Kontrolle umschlagen kann. Doch manche Frauen reagieren auf solche Warnungen völlig sprachlos. Ihr Kind sei überbehütet? Aber ist es nicht gut, wenn man besonders genau auf seine Sprösslinge achtet, sie behütet und kontrolliert? Nein, lautet die klare Antwort von Psychologie und Erziehungswissenschaft. Wer nur im Mama-Selbst lebt, für das Kind alles tut, noch bevor es einen Wunsch äussern kann und die Grenzen zu ihm verwischt, vermittelt ihm, dass die Mama die einzig wichtige Person in der Welt ist. Und sie macht es ihm auch unmöglich, sich aus einer solchen Überbindung im Laufe der Kindheit zu lösen und sich als eigenständiges und von der Mutter getrenntes Individuum entwickeln zu können. Kinder brauchen keine Übersättigung mit Zuwendung und auch keine symbiotische Beziehung zur Mutter.

Schliesslich ist der Mama-Mythos ein Produkt unserer kontroll- und überwachungsfreudigen Gesellschaft. Oft scheint es, als ob Mütter dem ganzen Land gehören, weil sie seine Kinder grossziehen und deren Zukunft bestimmen. Mehr denn je werden Frauen im Alltag beobachtet, mit ungefragten Ratschlägen und Kritik eingedeckt – in Bus und Tram, beim Einkaufen, im Restaurant oder beim Spazieren. Mütter gelten als öffentliche Personen und ihre Kinder als Besitz der Allgemeinheit. Teilweise mag dies ebenso für engagierte Väter zutreffen, doch Mütter sind wahrscheinlich die am stärksten beobachtete und kritisierte Gruppe unserer Gesellschaft. Die Rückmeldungen von Unbekannten orientieren sich meist an den Standards der perfekten Mutter, also ob das Kind brav, nicht zu laut und nicht zu still ist, aber auch nicht verwöhnt oder vernachlässigt wirkt. Dies bleibt für Frauen nicht ohne Wirkung. Manche Mütter können eine Kritik gut kontern, andere empfinden sie wie einen Schlag ins Gesicht, fühlen sich dadurch verunsichert und bekommen vermehrt Schuldgefühle.

Der Mama-Mythos und ungelöste Machtfragen

Dass sich der Mama-Mythos angesichts der massiven Gleichstellungsbemühungen in den letzten Jahren nicht verflüchtigt hat, ist sehr erstaunlich. Weshalb investieren Frauen so viel Zeit ins Muttersein?  Und warum erschwert manche Mama durch ihr Verhalten den väterlichen Einsatz in Kinderpflege und Erziehung? Weil der Mama-Mythos keine individuelle Angelegenheit ist, sondern ein kulturelles Mandat und als solches eine wesentliche Ursache dafür, dass so viele Frauen den Normen des überdimensionierten Mama-Ideals folgen. Deshalb ist es unfair, dieses Phänomen lediglich als etwas Privates abzutun. Es ist ein Konstrukt, das von Gesellschaft, Familienpolitik und Medien auf Frauen übertragen worden ist und in Erziehung und Sozialisation der heranwachsenden Generation seinen Ausdruck findet.

Der Mama-Mythos ist ein wichtiger Grund, weshalb Machtfragen zwischen den Geschlechtern nicht gelöst und Frauen gegenüber Männern sozial, politisch und ökonomisch benachteiligt sind. Wenn von Wirtschaft und Politik beklagt wird, Frauen würden ihr Berufspotenzial nicht ausschöpfen und Männer trotz viel Gleichstellungsarbeit die Nase weiterhin vorne haben, liegt dies nicht lediglich daran, dass Frauen zu zurückhaltend sind, sondern genauso an der Achillesferse des Mama-Ideals und dem oft damit verbundenen urmütterlichen Gefühl, alles Erdenkliche für Familie und Kinder tun zu müssen. Diesem Ideal zu widerstehen braucht viel Selbstbewusstsein.

Weil der Mama-Mythos für eine Rückkehr in vergangene Zeiten steht, muss er zur Debatte gestellt werden. Allerdings wäre es falsch, Frauen einfach zur Selbsttherapie aufzurufen und ihnen ans Herz zu legen, die Mutterschaft doch etwas gelassener zu nehmen. Angesprochen sind eher Familienpolitik, Ärztinnen und Ärzte, Expertinnen und -experten der Beratung und der Eltern- und Familienarbeit, welche die Entwicklung eines realistischeren Mutterbildes mit ihrer Fachexpertise unterstützen können. Weil sie Mütter begleiten, ihnen die physischen und entwicklungspsychologischen Meilensteine sowie die Möglichkeiten zur Gesundheitsprävention und Förderung der Kinder näherbringen, sind sie wichtige Instanzen – gerade auch für Frauen, die besonders gute Mütter sein wollen. Deshalb können sie diese Frauen so unterstützen, damit sie dem Kind gegenüber unbeschwerter werden, sich nicht für sein Aufwachsen allein verantwortlich fühlen und auch bereit werden, Einiges aus der Hand zu geben, was sie als ihre urmütterliche Pflicht verstehen. Bemerkungen wie «Sie sollten sich mehr Zeit nehmen und weniger gestresst sein» sind kontraproduktiv, weil sie die Orientierung am Mama-Ideal weiter anheizen.

Die Krise als Weckruf

Genauso sollten sich Frauen hinterfragen, inwiefern sie mit ihrem Verhalten dazu beitragen. Auch diese selbstkritische Perspektive braucht es, damit der Mama-Mythos mit seinen überdimensionierten Anforderungen öffentlich und gesellschaftspolitisch wahrgenommen wird und die «gute Mutter» neu konstruiert werden kann. Die neueste Legitimation für diese Forderung ist die Verstärkung des Mama-Mythos in der Corona-Krise. Während des durch den Lockdown bedingten Home-Office haben viele Mütter noch häufiger als vorher die Verantwortung für den Home-Bereich übernommen und im Office-Bereich zurückgesteckt. Dass sich so viele Frauen in die Pflicht haben nehmen lassen ist ein Zeichen dafür, dass sogar in der Corona-Krise der Ruf nach einem Aufbruch steckt. Wenn Frauen sich von der Vorstellung befreien könnten, nicht mehr immer und überall die Hauptverantwortung übernehmen zu müssen, wäre dies ein wichtiger Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit – sowohl für Mütter als auch Väter.

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Kommentare 2

Gäste - Gastbeitrag am Dienstag, 25. August 2020 08:34

Sehr geehrte Frau Stamm,
herzlichen Dank für Ihre Beiträge. Ich schätze Ihre Artikel und Ihren Blog sehr. Besonders gefällt mir Ihr mehrperspektivischer Zugang zu Familienthemen und Elternschaft.

Mein Sohn ist nun vier Monate alt. In den vier Monaten haben mein Partner und ich uns sehr viel mit unserem Lebensmodell und der Aufteilung der Betreuung unseres Sohnes auseinandergesetzt. Als sehr bereichernd haben wir dabei u.a. Ihre Darstellung des Maternal Gatekeeping in der NZZ empfunden. Die Reflexion über dieses Phänomen hat mir/ uns sehr dabei geholfen den Alltag als Paar und mittlerweile auch als Eltern weiterhin möglichst gleichwertig, kooperativ und trotzdem auch autonom zu gestalten.

Ihr Beitrag zur Vollzeit- Mutterschaft als Rebellion empfand ich auch als sehr wichtigen Ansatzpunkt – auch wenn ich persönlich nicht diesem Lebensmodell folge. Allzu oft münden Debatten zu Gleichstellung und Emanzipation leider in dogmatischen Positionen zugunsten eines Familien-/ Betreuungsmodells. Ihre Beiträge finde ich sehr bereichernd, da Sie sich von derlei Positionen klar distanzieren und die gesellschaftliche Pluralität im Blick behalten.

Zwei Gedanken bzw. weiterführende Fragen hätte ich zu Ihren Beiträgen:

1.) familienpolitische Konsequenzen?

Bezüglich den möglichen Nachteilen einer zwischenzeitlichen Vollmutterschaft werfen Sie kritisch ein, dass verschiedene Modelle allerdings unterschiedliche Abhängigkeiten zur Folge haben (z.B. Rente). Man kann diesen Bedenken die Perspektive hinzufügen, dass dies nicht nur in der Konstellationen einer Partnerschaft (Vater – Mutter – Kind(er)) eine aktuelle Herausforderung darstellt, sondern beispielsweise auch für alleinerziehende Mütter und Väter. Inwiefern wären familienpolitische Entwicklungen sinnvoll, wie beispielsweise die Anrechnung von Karenzzeiten und ein bedingungsloses Grundeinkommen?

2.) Ergänzungen zum „Mama-Mythos“: biologistische Argumentationslinien hinterfragen:

Ich habe vor und nach der Geburt meines Sohnes die Erfahrungen gemacht, dass das Stillen bzw. das Füttern des Kindes überwiegend zum Frauen-/Mutter-Terrain gemacht wird. Unter dem stetigen Verweis auf die Vorteile der Muttermilch gegenüber der Pre-Nahrung wurde in sämtlichen Geburtsvorbereitungskursen und nachfolgenden Beratungen das Bild der vollstillenden Mutter konstruiert. Alle anderen Ernährungsformen des Babys z.B. Zwie-Nahrung oder auch Pump- Stillen werden hierbei überwiegend als Abweichung von der eigentlich (biologisch- begründbaren) Norm konstruiert. Dies geht im Grunde soweit, dass es in der Regel kaum Informationen zu Alternativen wie Pumpstillen etc. in den Kursen bzw. seitens Elternberatungsstellen zu geben scheint.

Es würde mich interessieren in welchem Umfang z.B. im deutschsprachigen Raum Mütter ihre Kinder tatsächlich vollstillen. Denn in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es sehr unterschiedliche Formen, wie das Kind gefüttert wird und zu welchem Anteil sich der Vater bzw. andere Bezugspersonen hierbei beteiligen können/wollen (tagsüber aber auch in der Nacht).
Stillt die Frau ihre Kinder voll (ohne Zufüttern, Pumpstillen bzw. Fläschchen) gestaltet sich die Arbeitsteilung bzgl. der Betreuung des Babys und des Haushalts meist doch so, dass die Frauen die überwiegende Arbeit übernehmen.
Die Frauen werden (zwischenzeitlich) zu Vollzeitmüttern, die Väter arbeiten. Ich habe erlebt, sobald Frauen erzählen, dass sie bald wieder arbeiten wollen, ihnen die Frage gestellt wird: „Und wie machst du das dann bitte mit dem Stillen?“

Trägt nicht auch gerade diese verengte biologistische Perspektive auf Mutterschaft zur Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bei? Die implizite Argumentationslinie verläuft dann tendenziell so: "Da Frauen von Natur aus für die Ernährung des Kindes zuständig sind (Stillen), sind Sie auch für Betreuung des Kindes zuständig."

Trägt diese implizite biologistische Argumentationslinie nicht ebenfalls zur klassischen Rollenverteilung von Beginn an bei und ist diese Argumentationslinie nicht gerade für jene Frauen nachteilig, welche sich (früh) wieder ihrem Beruf zuwenden wollen?

Inwiefern könnten Geburtsvorbereitungskurse und Elternberatungsstellen zur Gleichstellung/Geschlechtergerechtigkeit ihren Beitrag leisten und vielfältigere Informationsangebote setzen, sodass es Eltern leichter fällt individuell passende Modelle in der Betreuung ihres/ihrer Kindes/Kinder zu finden?

Herzlichst und mit besten Grüßen


Sehr geehrte Leserin

Haben Sie besten Dank für Ihren differenzierten und meine Gedanken bereichernden Kommentar. Sie sprechen Aspekte rund um den Mama-Mythos an, von denen ich mir erhoffen würde, dass sie Teil einer familienpolitischen, feministischen, aber genauso medizinisch-beraterischen Debatte werden. Es braucht eine Ergänzung der bisher vorwiegend strukturell orientierten Fragen, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie um Emanzipation und Gleichstellung geht.

Zu Ihrer ersten Frage: Die Konsequenzen einer zwischenzeitlichen Vollzeitmutterschaft

Wie Sie schreiben, gehört die Perspektive der Alleinerziehenden selbstverständlich auch dazu, wenn es um die langfristigen Folgen respektive Abhängigkeiten und Unvereinbarkeiten bestimmter Lebensmodelle geht. In meinem Väter-Buch* habe ich solche Fragen thematisiert und dabei vor allem den Begriff der «neuen Architektur der Lebensspanne» verwendet. Damit meine ich, dass unsere Gesellschaft nicht nur einen neuen Umgang mit den Geschlechterrollen braucht – ohne dabei ausschliesslich das egalitäre Familienmodell zu präferieren – sondern einen grundsätzlich anderen Umgang mit der Zeit, der auf die ganze Lebensspanne ausgerichtet ist und auch die langfristige Planung von Beruf und Familie beider Partner in den Blick nimmt. Daraus resultiert die Forderung nach einer Entzerrung der Rushhour. Die Anrechnung von Karenzzeiten, aber auch von Fürsorgeleistungen generell (z.B. Pflege von kranken Angehörigen) gehören dazu, weshalb das Grundeinkommen fast notgedrungen zu einem Thema wird.

Zu Ihrer zweiten Frage: Die biologistischen Argumentationslinien und die Folgen

Ich stimme mit Ihnen überein, dass gerade das Stillen die Renaissance des Biologismus und die klassische Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern weiter fördert. In meinem Mamamythos-Buch spreche ich diese Problematik sachte an, weil ich weiss, welche Ideologien dahinter verborgen sind. Weil ich als Erziehungswissenschaftlerin das Thema Stillen zu wenig profund kenne, habe ich es nur am Rande angesprochen. Die Statistik zeigt wie «modern» Stillen wieder geworden ist: Die Stillquote liegt inzwischen in der Schweiz bei durchschnittlich 88%, höher als in Deutschland aber niedriger als in Österreich. Nach drei Monaten werden noch 48% der Kinder voll gestillt, nach vier Monaten noch 32% und nach sechs Monaten noch 14% (Bundesamt für Gesundheit, Fünfter Schweizer Ernährungsbericht 2015).

Folgt man den medizinischen Berichten, die auf dem Boden medizinischer Evidenz bleiben und sich ideologisch nicht vereinnahmen lassen, spricht zwar ziemlich Vieles für das Stillen, aber dessen «alleinseligmachende» Wirkung wird auch relativiert und damit der Stilldruck auf die Frauen minimiert.
Was m. E. in der Fachwelt oft fehlt, ist die Diskussion des Mamamythos im Zusammenhang mit dem Stillen. Die Still-Ideologie trägt – wie Sie richtig schreiben – zu einer Intensivierung der biologistisch geprägten Perspektive und damit zur Überzeugung vieler Frauen, dass sie die ersten Jahre die hauptverantwortliche Person im Leben des Kindes sein müssen. Der Vater kann aus dieser Sicht höchstens wohlwollender Zudiener sein.

Sehr gefreut hat mich im Zusammenhang mit meinem NZZ-Aufsatz und dem neuen Buch** eine Zuschrift eines emeritierten Kollegen und ehemaligen Direktors einer Frauenklinik, der heute im Vorstand der Deutschen Familienstiftung ist. Er anerkennt die von mir geschilderte Problematik und schreibt «dass wir alles tun müssen, um dieser für Mütter, Väter, ihre Kinder, ja die Gesellschaft belastende Entwicklung entgegenzuwirken.» Im Handbuch «Geburts- und Familienvorbereitung» werden solche Problematiken diskutiert***.

*Stamm, M. (2018). Neue Väter brauchen neue Mütter. Weshalb Familie nur gemeinsam gelingt. München: Piper.
**Stamm, M. (2020). Kinder brauchen keine Supermütter, NZZ, 20.07. Stamm, M. (2020). Du musst nicht perfekt sein, Mama. Schluss mit dem Supermama-Mythos. München: Piper.
***Spätling, L. et al. (2020). Handbuch Geburts- und Familienbegleitung. Frankfurt: Mabuse.

Sehr geehrte Frau Stamm, herzlichen Dank für Ihre Beiträge. Ich schätze Ihre Artikel und Ihren Blog sehr. Besonders gefällt mir Ihr mehrperspektivischer Zugang zu Familienthemen und Elternschaft. Mein Sohn ist nun vier Monate alt. In den vier Monaten haben mein Partner und ich uns sehr viel mit unserem Lebensmodell und der Aufteilung der Betreuung unseres Sohnes auseinandergesetzt. Als sehr bereichernd haben wir dabei u.a. Ihre Darstellung des Maternal Gatekeeping in der NZZ empfunden. Die Reflexion über dieses Phänomen hat mir/ uns sehr dabei geholfen den Alltag als Paar und mittlerweile auch als Eltern weiterhin möglichst gleichwertig, kooperativ und trotzdem auch autonom zu gestalten. Ihr Beitrag zur Vollzeit- Mutterschaft als Rebellion empfand ich auch als sehr wichtigen Ansatzpunkt – auch wenn ich persönlich nicht diesem Lebensmodell folge. Allzu oft münden Debatten zu Gleichstellung und Emanzipation leider in dogmatischen Positionen zugunsten eines Familien-/ Betreuungsmodells. Ihre Beiträge finde ich sehr bereichernd, da Sie sich von derlei Positionen klar distanzieren und die gesellschaftliche Pluralität im Blick behalten. Zwei Gedanken bzw. weiterführende Fragen hätte ich zu Ihren Beiträgen: 1.) familienpolitische Konsequenzen? Bezüglich den möglichen Nachteilen einer zwischenzeitlichen Vollmutterschaft werfen Sie kritisch ein, dass verschiedene Modelle allerdings unterschiedliche Abhängigkeiten zur Folge haben (z.B. Rente). Man kann diesen Bedenken die Perspektive hinzufügen, dass dies nicht nur in der Konstellationen einer Partnerschaft (Vater – Mutter – Kind(er)) eine aktuelle Herausforderung darstellt, sondern beispielsweise auch für alleinerziehende Mütter und Väter. Inwiefern wären familienpolitische Entwicklungen sinnvoll, wie beispielsweise die Anrechnung von Karenzzeiten und ein bedingungsloses Grundeinkommen? 2.) Ergänzungen zum „Mama-Mythos“: biologistische Argumentationslinien hinterfragen: Ich habe vor und nach der Geburt meines Sohnes die Erfahrungen gemacht, dass das Stillen bzw. das Füttern des Kindes überwiegend zum Frauen-/Mutter-Terrain gemacht wird. Unter dem stetigen Verweis auf die Vorteile der Muttermilch gegenüber der Pre-Nahrung wurde in sämtlichen Geburtsvorbereitungskursen und nachfolgenden Beratungen das Bild der vollstillenden Mutter konstruiert. Alle anderen Ernährungsformen des Babys z.B. Zwie-Nahrung oder auch Pump- Stillen werden hierbei überwiegend als Abweichung von der eigentlich (biologisch- begründbaren) Norm konstruiert. Dies geht im Grunde soweit, dass es in der Regel kaum Informationen zu Alternativen wie Pumpstillen etc. in den Kursen bzw. seitens Elternberatungsstellen zu geben scheint. Es würde mich interessieren in welchem Umfang z.B. im deutschsprachigen Raum Mütter ihre Kinder tatsächlich vollstillen. Denn in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es sehr unterschiedliche Formen, wie das Kind gefüttert wird und zu welchem Anteil sich der Vater bzw. andere Bezugspersonen hierbei beteiligen können/wollen (tagsüber aber auch in der Nacht). Stillt die Frau ihre Kinder voll (ohne Zufüttern, Pumpstillen bzw. Fläschchen) gestaltet sich die Arbeitsteilung bzgl. der Betreuung des Babys und des Haushalts meist doch so, dass die Frauen die überwiegende Arbeit übernehmen. Die Frauen werden (zwischenzeitlich) zu Vollzeitmüttern, die Väter arbeiten. Ich habe erlebt, sobald Frauen erzählen, dass sie bald wieder arbeiten wollen, ihnen die Frage gestellt wird: „Und wie machst du das dann bitte mit dem Stillen?“ Trägt nicht auch gerade diese verengte biologistische Perspektive auf Mutterschaft zur Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bei? Die implizite Argumentationslinie verläuft dann tendenziell so: "Da Frauen von Natur aus für die Ernährung des Kindes zuständig sind (Stillen), sind Sie auch für Betreuung des Kindes zuständig." Trägt diese implizite biologistische Argumentationslinie nicht ebenfalls zur klassischen Rollenverteilung von Beginn an bei und ist diese Argumentationslinie nicht gerade für jene Frauen nachteilig, welche sich (früh) wieder ihrem Beruf zuwenden wollen? Inwiefern könnten Geburtsvorbereitungskurse und Elternberatungsstellen zur Gleichstellung/Geschlechtergerechtigkeit ihren Beitrag leisten und vielfältigere Informationsangebote setzen, sodass es Eltern leichter fällt individuell passende Modelle in der Betreuung ihres/ihrer Kindes/Kinder zu finden? Herzlichst und mit besten Grüßen Sehr geehrte Leserin Haben Sie besten Dank für Ihren differenzierten und meine Gedanken bereichernden Kommentar. Sie sprechen Aspekte rund um den Mama-Mythos an, von denen ich mir erhoffen würde, dass sie Teil einer familienpolitischen, feministischen, aber genauso medizinisch-beraterischen Debatte werden. Es braucht eine Ergänzung der bisher vorwiegend strukturell orientierten Fragen, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie um Emanzipation und Gleichstellung geht. Zu Ihrer ersten Frage: Die Konsequenzen einer zwischenzeitlichen Vollzeitmutterschaft Wie Sie schreiben, gehört die Perspektive der Alleinerziehenden selbstverständlich auch dazu, wenn es um die langfristigen Folgen respektive Abhängigkeiten und Unvereinbarkeiten bestimmter Lebensmodelle geht. In meinem Väter-Buch* habe ich solche Fragen thematisiert und dabei vor allem den Begriff der «neuen Architektur der Lebensspanne» verwendet. Damit meine ich, dass unsere Gesellschaft nicht nur einen neuen Umgang mit den Geschlechterrollen braucht – ohne dabei ausschliesslich das egalitäre Familienmodell zu präferieren – sondern einen grundsätzlich anderen Umgang mit der Zeit, der auf die ganze Lebensspanne ausgerichtet ist und auch die langfristige Planung von Beruf und Familie beider Partner in den Blick nimmt. Daraus resultiert die Forderung nach einer Entzerrung der Rushhour. Die Anrechnung von Karenzzeiten, aber auch von Fürsorgeleistungen generell (z.B. Pflege von kranken Angehörigen) gehören dazu, weshalb das Grundeinkommen fast notgedrungen zu einem Thema wird. Zu Ihrer zweiten Frage: Die biologistischen Argumentationslinien und die Folgen Ich stimme mit Ihnen überein, dass gerade das Stillen die Renaissance des Biologismus und die klassische Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern weiter fördert. In meinem Mamamythos-Buch spreche ich diese Problematik sachte an, weil ich weiss, welche Ideologien dahinter verborgen sind. Weil ich als Erziehungswissenschaftlerin das Thema Stillen zu wenig profund kenne, habe ich es nur am Rande angesprochen. Die Statistik zeigt wie «modern» Stillen wieder geworden ist: Die Stillquote liegt inzwischen in der Schweiz bei durchschnittlich 88%, höher als in Deutschland aber niedriger als in Österreich. Nach drei Monaten werden noch 48% der Kinder voll gestillt, nach vier Monaten noch 32% und nach sechs Monaten noch 14% (Bundesamt für Gesundheit, Fünfter Schweizer Ernährungsbericht 2015). Folgt man den medizinischen Berichten, die auf dem Boden medizinischer Evidenz bleiben und sich ideologisch nicht vereinnahmen lassen, spricht zwar ziemlich Vieles für das Stillen, aber dessen «alleinseligmachende» Wirkung wird auch relativiert und damit der Stilldruck auf die Frauen minimiert. Was m. E. in der Fachwelt oft fehlt, ist die Diskussion des Mamamythos im Zusammenhang mit dem Stillen. Die Still-Ideologie trägt – wie Sie richtig schreiben – zu einer Intensivierung der biologistisch geprägten Perspektive und damit zur Überzeugung vieler Frauen, dass sie die ersten Jahre die hauptverantwortliche Person im Leben des Kindes sein müssen. Der Vater kann aus dieser Sicht höchstens wohlwollender Zudiener sein. Sehr gefreut hat mich im Zusammenhang mit meinem NZZ-Aufsatz und dem neuen Buch** eine Zuschrift eines emeritierten Kollegen und ehemaligen Direktors einer Frauenklinik, der heute im Vorstand der Deutschen Familienstiftung ist. Er anerkennt die von mir geschilderte Problematik und schreibt «dass wir alles tun müssen, um dieser für Mütter, Väter, ihre Kinder, ja die Gesellschaft belastende Entwicklung entgegenzuwirken.» Im Handbuch «Geburts- und Familienvorbereitung» werden solche Problematiken diskutiert***. *Stamm, M. (2018). Neue Väter brauchen neue Mütter. Weshalb Familie nur gemeinsam gelingt. München: Piper. **Stamm, M. (2020). Kinder brauchen keine Supermütter, NZZ, 20.07. Stamm, M. (2020). Du musst nicht perfekt sein, Mama. Schluss mit dem Supermama-Mythos. München: Piper. ***Spätling, L. et al. (2020). Handbuch Geburts- und Familienbegleitung. Frankfurt: Mabuse.
Gäste - Baby Lama (website) am Dienstag, 25. April 2023 08:13

Ich denke, es ist notwendig, über die übermäßigen Anforderungen an Mütter zu sprechen und den Druck, dem sie ausgesetzt sind, zu erkennen und zu reduzieren. Die Autorin zeigt auch auf, wie der "Mama-Mythos" nicht nur für die Mütter selbst, sondern auch für die Kinder schädlich sein kann. Vielen Dank für das Teilen dieses Artikels!

Ich denke, es ist notwendig, über die übermäßigen Anforderungen an Mütter zu sprechen und den Druck, dem sie ausgesetzt sind, zu erkennen und zu reduzieren. Die Autorin zeigt auch auf, wie der "Mama-Mythos" nicht nur für die Mütter selbst, sondern auch für die Kinder schädlich sein kann. Vielen Dank für das Teilen dieses Artikels!
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