Langeweile ist ein böses Kraut

Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich als Mädchen an den Familiensonntagen enorm langweilte: am Morgen in die Sonntagschule, beim immer gleichen Mittagessen mit Schnitzel, Pommes Frites und Ananas aus der Dose und dann bei einem Spaziergang an der Aare, wohlverstanden in den «Sonntagskleidern», die keinesfalls schmutzig werden durften.

Hand aufs Herz: Wer kennt keine Langeweile? Jeden Tag schlagen sich bekanntlich viele Menschen ihre Stunden tot. Sie machen Unsinn, nichts Wichtiges, trödeln vor sich hin oder warten auf etwas Unbestimmtes. Die «Weile» wird «lang», wie das Wort sagt. Man langweilt sich eigentlich immer dann, wenn man darauf wartet, dass endlich etwas passiert oder wenn das Nichtstun erzwungen wird. Deshalb ist die Suche nach Ablenkung so gross. Am deutlichsten erkennen wir dies an unserem Umgang mit dem Smartphone: Wer kann heute noch auf den Bus warten, beim Arzt sitzen oder in der Migros an der Kasse anstehen, ohne nicht ständig an seinem Gerät zu hängen, um die Langeweile zu überlisten? Aber jeder Mensch hat seine persönliche Langeweile-Schwelle. Der eine wird von ihr schnell mal eingeholt, der andere kann gar nicht genau sagen, ob er sich langweilt oder nicht und den dritten beschleicht das Gefühl so gut wie nie.

Obwohl Langeweile für viele ein lästiges, aber vertrautes Gefühl ist, schenken wir diesem Phänomen im Allgemeinen wenig Beachtung. Es erstaunt somit wenig, dass die Langeweileforschung – im Gegensatz etwa zur Aggressionsforschung – ein Schattendasein fristet. Eine Ausnahme ist die Langeweile in der Schule, zu der ein paar empirische Studien vorliegen. Anders in Philosophie und Literatur. Von Augustinus bis Kierkegaard, von Schopenhauer und Nietzsche bis zu Blaise Pascal, Hölderlin, Beckett oder Kundera: Sie alle zählten das Problem der Langeweile zu den grossen Fragen unserer Existenz. Am intensivsten und subtilsten hat sich Heidegger in seinen phänomenologischen Untersuchungen damit auseinandergesetzt.

Es gibt viele Typologien von Langeweile. Am einleuchtendsten scheint mir diejenige, welche ich im empfehlenswerten Buch von Lars Svendsen «Kleine Philosophie der Langeweile»* gefunden habe und die von Martin Doehlemann stammt:

  • die situative Langeweile (in einer langweiligen Vorlesung zu sitzen oder auf einer Zugfahrt zu sein und nur zu warten, bis sie zu Ende ist)

  • die existenzielle Langeweile (die Seele als inhaltlos und das Dasein als sinnlose Existenz zu empfinden)

  • die überdrüssige Langeweile (eine Sache nicht mehr hören oder sehen zu können, weil man sie schon lange kennt oder kann)

  • die schöpferische Langeweile (etwas Neues schaffen zu müssen, aber aufgrund unerklärlicher Barrieren nicht zu können).

Langeweile kann ein Mensch somit für sich allein empfinden, aber auch mit anderen zusammen. Gerade in Familien ist Langeweile oft ein grosses Thema. Viele Kinder wissen häufig nichts mit sich selbst anzufangen – vielleicht gerade deshalb, weil sie sich nie langweilen oder nicht genug. Weil ihre Terminkalender übervoll und die Tage durchstrukturiert sind, werden sie hilflos, wenn plötzlich ein freies Zeitfenster zur Verfügung steht. Entwicklungspsychologisch wäre das Erleben von Langeweile jedoch eine wichtige Grundlage, damit Kinder eigene Interessen (und nicht die der Eltern) wahrnehmen und lernen könnten, diese auch zu verfolgen.

Auch in der Schule oder an der Universität kann Langeweile mit viel Verdruss verbunden sein. Bei den Schülern ist sie besonders stark verbreitet, gehört sie doch  für viele zu den grundlegendsten Schulerfahrungen. Die Forschung geht davon aus, dass sich bis zu 50% der Schüler im Unterricht regelmässig langweilen** und Knaben davon stärker betroffen sind als Mädchen. Unklar sind jedoch die Ursachen: Liegt es am Stoff, an der Vermittlung oder an mangelndem Interesse und Spass, dass die Schüler oft dermassen Mühe haben, 45 Minuten stillzusitzen oder einen Inhalt auch dann auswendig zu lernen, wenn er ihnen nicht einleuchtet? Mit Blick auf die Erkenntnisse aus der Begabungsforschung dürften alle diese Faktoren eine Rolle spielen, wissen wir doch um den empirischen Zusammenhang von überdurchschnittlicher Intelligenz und Langeweile. Begabte Schülerinnen und Schüler sind oft unterfordert und schwänzen deshalb aus Langeweile die Schule***.

Das Langeweile-Gefühl ist auch am Arbeitsplatz verbreitet. In der psychosomatischen Medizin wird dafür der Begriff «Boreout» benutzt. Boreout gilt als kleiner Bruder des Burnout-Syndroms (des Ausbrennens und der Überbelastung) und meint die Langeweile am Arbeitslatz durch Unterforderung. Boreout entsteht, wenn Menschen etwas leisten möchten, sie aber eigentlich nichts zu leisten haben, das sie fordert. Um Unterforderung nicht zu zeigen, wird sie geschickt vertuscht, beispielsweise durch Ausreden, die im Betrieb allgemein akzeptiert sind. Anstatt ehrlich zu gestehen: «Ich langweile mich zu Tode, das macht mich fertig» gilt es als viel angesehener, wenn man klagt: «Ich habe so viel zu tun, langsam fällt mir die Decke auf den Kopf.»

Wie kann man mit Langeweile umgehen? Hierzu gibt es viele Tipps. Sie reichen von «ein bisschen chillen» (Die ZEIT, 10.04.2014) – womit wahrscheinlich die situative Langeweile gemeint ist – über Tipps, wie man sie geschickt umgehen könnte bis zu Vorschlägen, sie ernst zu nehmen, etwas im Leben zu ändern, eine andere Haltung zu erwerben und zu erkennen, dass man nicht nur Opfer ist. Diese dürften vor allem für die überdrüssige Langeweile und damit für Menschen gelten, die mit dem Boreout-Syndrom konfrontiert sind. Aber welche Ratschläge bieten sich die anderen Langeweile-Typen an?

Hierzu gefällt mir das Fazit von Svendsen besonders gut: dass es für sie eigentlich gar keine Lösung gibt. Wenn man die Langeweile reflektiere, dann teile sie einem mit, wie man lebt – und dann sei der Weg nicht mehr weit, sie auch als inspirierende Musse zu erkennen, d.h. als schöpferische Gestaltung der freien Zeit. Es gälte somit, Langeweile zu akzeptieren und auszuhalten.

Johann Wolfgang von Goethe hat somit Recht bekommen, wenn er behauptet: «Langeweile ist nicht nur ein böses Kraut, sondern auch eine Würze, die viel verdaut». Eine derart positive Botschaft kommt auch aus der Forschung. Der Leerlauf im Gehirn ist wichtig****. Wer geistig häufiger wegdriftet, verschont nicht nur das Gehirn von ständig neuen Eindrücken, sondern schneidet in Kreativitäts- und Selbstreflexionstests überdurchschnittlich ab.

Wenn uns somit das nächste Mal Langeweile nervt, dann könnten wir eigentlich zuversichtlicher sein: Zwangspausen sind keine verschenkte Zeit, die uns schaden, sondern ein umfassendes Resetting für Gehirn und Emotionen. Und Eltern könnten die Langeweile ihres Nachwuchses auch als positive Quelle für eine gesunde Entwicklung verstehen.

Literatur

*Svendsen, H. (2002). Kleine Philosophie der Langeweile. Frankfurt: Insel.

**Götz, T. & Frenzel, A. (2006). Phänomenologie schulischer Langeweile. In: Zeitschrift für entwicklungspsychologische und pädagogische Psychologie, 38, 4, 149-154.

***Stamm, M. (2013). Entwicklung ohne Ende. Wie sie Bildungswege und Lernstufen beeinflusst. Zürich/Chur: Rüegger.

**** Goetz, T. et al. (2013). Types of boredom: An experience sampling approach. Motivation and Emotion, 2013; DOI: 10.1007/s11031-013-9385-y.

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