Lehrlingsmangel: Ist die Berufsbildung in einer Krise?

Unglaublich, aber wahr: Noch vor ein paar Jahren dominierte die Jugendarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden. In diesem Zusammenhang wurde bisher wenig diskutiert, dass dadurch auch die betriebliche Nachwuchssicherung und das unternehmerische Wachstum gefährdet sind. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich diese Situation weiter verschärfen.

Unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Lehrstellen sind somit eine ernst zu nehmende  Problematik. Die aktuelle Situation ist dabei eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demografischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 drastisch sinken. Dazu kommt, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren, tatsächlich erfolgreich sind. Anzunehmen ist deshalb, dass die Berufsbildung weiterhin für viele Jugendliche lediglich zweite Wahl bleiben wird. Da vor allem die Jugendlichen mit guten Noten ins Gymnasium eintreten, dürften zudem die absoluten Zahlen der leistungsstarken Auszubildenden in der Berufsbildung weiter sinken.

Aktuell wird sehr viel unternommen, um diese Problematik zu beheben. So will das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit der von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt initiierten Kampagne «Berufsbildungplus.ch» vermehrt Talente suchen und fördern. Als bildungspolitische Massnahmen vorgesehen sind zudem die Motivierung junger Frauen für technische Berufe oder die gezielte Nutzung des Potenzials junger Migrantinnen und Migranten. Ferner werden die Berufs(-weltmeister)schaften breit propagiert. Einzelne Verbände sind bereits ausgesprochen aktiv geworden in der Anwerbung potenzieller Auszubildender. Auch viele Betriebe haben begonnen, ihre Rekrutierungsstrategien den schwierigen Bedingungen anzupassen. 2014 soll laut Bundesrat Schneider-Ammann das Jahr der Berufsbildung werden: Vom 17. bis zum 21. September 2014 werden in Bern die ersten nationalen Berufs-Schweizermeisterschaften stattfinden.

So weit so gut. Die andere Seite der Medaille ist leider die, dass aktuell ca. 10% der 15- bis 24-jährigen Jugendlichen im Dezember 2013 ohne Arbeit waren. 16 500 Jugendliche befanden sich im Übergangssystem. Damit werden alle Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obligatorischer Schulzeit und einer Berufslehre resp. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-Pair-Stelle oder ein Praktikum etc. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule-Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Die Hintergründe sind jedoch sehr unterschiedlich, so dass sich mindestens vier Gruppen Jugendlicher unterscheiden lassen:

  • Gruppe 1: Zu ihr gehören Jugendliche, welche zwar eine höhere Ausbildung angestrebt hatten, diese jedoch auf dem geraden gymnasialen Weg nicht erreichen konnten.

  • Gruppe 2: Sie umfasst solche Jugendlichen, welche trotz mehr oder weniger intensiver Suche keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten.

  • Gruppe 3: Sie bündelt solche Jugendlichen , welche schlecht orientiert waren und deshalb ohne Planung ins Übergangssystem hineinstolperten.

  • Gruppe 4: Sie subsumiert diejenigen Jugendlichen, welche aufgrund ihres «strategischen Wartens» im Übergangssystem landeten, d.h., dass sie lieber eine weitere Schlaufe drehten als eine konkrete Ausbildung wählten.

Solche Probleme verdeutlichen: Die Schweizer Berufsbildung hat eine Achillesferse. Auf der einen Seite klagen verschiedene Branchen über den Lehrlingsmangel, andererseits dreht jeder zehnte Jugendliche eine Warteschlaufe. Folgt man den Erklärungen vieler Betriebe und Verbände, so hat diese Achillesferse einen konkreten Namen: die «fehlende Ausbildungsreife». Im April 2013 gaben mehr als 30% der befragten Betriebe als Gründe für ihre unbesetzten Lehrstellen einen «Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern» an. Hört man sich etwas herum, so lässt sich der Begriff schnell einmal konkretisieren: Neben schlechtem Benehmen oder Unpünktlichkeit klagen viele Lehrbetriebe über fehlendes Grundlagenwissen. Bewerberinnen und Bewerber könnten kaum mehr einen Text ohne Fehler schreiben oder die minimalsten mathematischen Grundoperationen beherrschen.

Solche Klagen wirken neu, sind es aber nicht. Wir kennen sie seit mindestens zwanzig Jahren (und wir kennen sie auch an Gymnasien und Universitäten!). Manchmal sind es einfach Schutzbehauptungen, weil sich Betriebe nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Die Klagen sind jedoch so intensiv, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen muss. Nur, was ist zu tun? Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt und garantiert, dass alle Schüler über solche «Mindestkompetenzen» verfügen? Wir alle wissen, dass dies angesichts der heutigen heterogenen Schülerklientel und unter den gegebenen finanziellen Bedingungen kaum im geforderten Tempo möglich sein wird. Sollen somit die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbildungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung unseres Landes fatal. Schon letztes Jahr verzeichnete der Verband für Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie Swissmem für seine Branche einen Rückgang der Neuanstellungen von Lehrlingen um 8%.

Meines Erachtens ist die hier beschriebene Achillesferse der Berufsbildung nicht lediglich ein Problem der fehlenden Ausbildungsreife. Mit Sicherheit gibt es auch Gründe, die bei den Betrieben selbst liegen. Darauf verweist unsere empirische Untersuchung zum Lehrlingsmangel, die wir im letzten Sommer veröffentlicht haben*. In dieser Untersuchung haben wir «erfolgreiche Lehrbetriebe» (definiert als Betriebe, welche alle Lehrstellen besetzen konnten) mit «nicht erfolgreichen Betrieben» verglichen (definiert als Betriebe mit unbesetzten Lehrstellen). Im Ergebnis zeigte sich, dass sich diese beiden Gruppen in ihren Rekrutierungs- und Selektionsstrategien deutlich voneinander unterschieden. Betriebe haben folgedessen einen relativen grossen Einfluss darauf, ob sie geeignete Kandidatinnen und Kandidaten finden oder nicht. Betriebe sind nicht nur Opfer der aktuellen Situation.

Was zeichnet somit erfolgreiche Lehrbetriebe aus? Und was könn(t)en weniger erfolgreiche Betriebe von ihnen lernen? Acht Faktoren sind ausschlaggebend. Erfolgreich Betriebe

  1. werben systematisch und kontinuierlich um gute Auszubildende und schreiben solche auch direkt an;

  2. arbeiten regelmässig mit Schulen und Bildungsträgern zusammen und machen auf ihr Unternehmen aufmerksam;

  3. bemühen sich systematisch darum, Eltern frühzeitig zu erreichen;

  4. arbeiten direkt mit Berufsberatungen zusammen;

  5. bauen bedeutungsvolle Gesten in ihre Strategien ein (Präsenz an Betriebes- und Ausstellungsmessen etc.);

  6. setzen Anreize ein, welche Jugendliche an sie binden. Deshalb sind sie nicht konsumorientiert (wie Fahrstunden, SMS-Minuten etc.), sondern setzen auf Kompetenzerweiterung und Karrieremöglichkeiten wie interessante Weiterbildungen oder einen Einsatz in einer Auslandfiliale;

  7. berücksichtigen Bewerbungen von Jugendlichen aller Schulniveaus;

  8. gewichten Multi-/Basis-Checks und schriftliche Bewerbungsunterlagen, Schulnoten und Absenzen geringer, Persönlichkeitsmerkmale wie Leistungsbereitschaft, Höflichkeit, Fleiss, Pünktlichkeit etc. jedoch höher.

Betriebe sollten generell viel stärker zwischen Leistung (Schulnoten) und Potenzial unterscheiden und Fähigkeiten jenseits des schulischen Wissens in ihren Rekrutierungsstrategien berücksichtigen. Die einseitigen Klagen über die «fehlende Ausbildungsreife» sind wenig innovativ und bilden nur die die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Gerade weil heute der Ansturm aufs Gymnasium so gross ist, sind es zunehmend die Schülerinnen und Schüler mit weniger gute Schulnoten und mit weniger geradlinigen Schullaufbahnen, die der Berufsbildung zur Verfügung stehen werden. Diese jedoch sind nicht minder geeignet, die zukünftigen Talente der Schweizer Berufsbildung zu werden. Der Blick auf sie muss sich allerdings zwingend verändern.

 

Literatur

*Stamm, M. (2013). Dossier Lehrlingsmangel. Strategien zur Rekrutierung des Nachwuchses. (http://www.margritstamm.ch/component/docman/cat_view/4-dossiers.html?Itemid=)

Kinder haben ein Recht auf blaue Flecken
Weshalb meiden Betriebe Realschüler?

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Kommentare 1

Gäste - Hans am Freitag, 03. Januar 2014 13:04

Sehr geehrte Damen und Herren

Dieses Problem ist mir schon seit Jahren bekannt.
Ich wurde ja immer von der Privatwirtschaft ausgelacht.

Mit freundlichen Grüssen

Hans Zimmerli

Sehr geehrte Damen und Herren Dieses Problem ist mir schon seit Jahren bekannt. Ich wurde ja immer von der Privatwirtschaft ausgelacht. Mit freundlichen Grüssen Hans Zimmerli
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