Mehr Bauchgefühl für Eltern in der frühen Förderung!
Viele, vor allem gut ausgebildete Eltern sind heute überinformiert. Sie wissen alles über Hirnforschung, über Babymassage, über Einschlaf- und Durchschlaf- oder Anti-Schreimethoden, über die richtige Ernährung oder über frühes Fremdsprachenlernen. Sie klammern sich an Lernkurven fest, vergleichen ihr Kind ständig mit dem Nachwuchs der Nachbarn und haben Angst vor eigenen Fehlern. Dabei verkümmert häufig ihre Intuition, d.h. ihre Fähigkeit, zu spüren, was gut für ihr Kind ist und was nicht. Eltern sollten wieder lernen, besser auf ihr Bauchgefühl zu hören, aber auch ihre Vernunft zu nutzen. Intuition und Vernunft bilden die beiden Pole der Erziehungskompetenz.
Allerdings ist Intuition noch immer verpönt. Sie gilt als wenig professionell. Blickt man in die Bücherregale und die Websiten von Buchhandlungen, dann verstärkt sich diese Einschätzung. Erziehungsratgeber, die aufliegen, haben Hochkonjunktur. Eltern glauben ihnen aufs Wort. Vor allem dann, wenn sie vorgeben, von «pädagogischen Experten» entwickelt worden zu sein. Dies ist verständlich. Denn jahrelang hat die Forschung unterstrichen, dass Eltern ihre Kinder umso besser erziehen, je mehr sie sich von Verstand und Vernunft leiten lassen. Gefühle, so haben Väter und Mütter in Elternkursen gelernt, sind eher störendes Beiwerk, welche die Vernunft schnell einmal unterwandern können. Eltern, die sich an wissenschaftlichem Wissen orientieren, sind somit ein Segen für unsere Gesellschaft. Sie schützen sich nicht nur vor Selbstüberschätzung, sondern ihre Kinder auch vor Willkür. Leider stimmt dies so nicht.
Es braucht auch eine Portion Intuition. Wir alle verfügen über sie, doch haben wir sie häufig verlernt. Allerdings meint Intuition nicht einfach ‚spontan sein‘. Vielmehr gibt es so etwas wie eine professionelle Intuition. Gerd Gigerenzer bezeichnet sie in seinem lesenswerten Buch «Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition» als «gefühltes Wissen». Das Bauchgefühl ist somit keine Eingebung von oben oder nur eine Vorstellung, sondern unbewusste Intelligenz. Sie entsteht aus einer Fülle von Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gesammelt haben. Auf Basis dieser abgespeicherten Erfahrungen können wir – scheinbar aus dem Bauch heraus – in vielen Situationen schnelle Entscheidungen treffen. Im Sport sind hierfür Roger Federer oder Xherdan Shaqiri beste Beispiele.
Wenn Eltern ihre Intuition nutzen, spielen Gefühl und Vernunft gleichermaßen eine Rolle. Dieses Phänomen konnte ich kürzlich im Tram beobachten: Eine Mutter mit ihrem ca. Zweijährigen im Wagen, verliess das Tram an der nächsten Haltestelle wieder fast fluchtartig, weil der Kleine so ausserordentlich schrie und die Blicke der genervten Tram-Passagiere alles sagten, was man sich vorstellen kann. Richtig, aber wahrscheinlich vollkommen intuitiv, hat sie gehandelt, denn es hätte kaum eine erzieherische Alternative gegeben. Hätte ich diese Mutter allerdings unmittelbar nachher gefragt, welche Vernunft sie bei dieser Entscheidung angewendet habe, hätte sie mit grosser Sicherheit geantwortet, dass sie gar keine Zeit zum Überlegen gehabt, sondern ausschliesslich aus den Bauch heraus gehandelt habe.
Mehr Intuition wäre gerade in der frühen Förderung wichtig. Eltern sollten wieder lernen, der Intuition und den dahintersteckenden Faustregeln mehr zu vertrauen, aber auch lernen, wann sie diesen nicht vertrauen können. Eltern können Intuition schulen, indem sie versuchen
den richtigen, d.h. dem Kind (und nicht den eigenen Interessen) angemessenen Zeitpunkt zu finden, mit einer bestimmten Förderung zu beginnen;
ihr Kind so achtsam zu fördern, dass sie es nicht überfordern;
sich zu fragen, ob die Förderung, die sie im Kopf haben, auch tatsächlich zu ihrem Kind passt;
sie Signale ihres Kindes ernst zu nehmen.
«Aus dem Bauch heraus» bedeutet jedoch nicht, den Kopf abzuschalten und kein Buch mehr über Erziehung zu lesen. Erziehungskompetenz meint eine Kombination von Wissen und Elementen intuitiver Praxis. Intuition ist auf (theoretisches) Wissen angewiesen. Eltern, die (noch) wenig davon haben, sollten sich nicht unbedingt ausschliesslich auf ihre Intuition verlassen. Väter und Mütter mit reichhaltiger Erfahrung und genug verinnerlichtem Wissen sind jedoch bestens dafür ausgerüstet, ihr Bauchgefühl mehr sprechen zu lassen.
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