Späte(re) Karrieren von Paaren erwünscht!

Janet Yellen ist seit dem 1. Februar 2014 die erste Frau, welche der mächtigsten Notenbank der Welt, dem Federal Reserve Board (Fed) vorsteht. Geboren am 13. August 1946 war sie zu diesem Zeitpunkt genau 67.6 Jahre alt. Zwei Jahre nach dem offiziellen Pensionierungsalter schlägt sie das wichtigste Kapitel ihrer Laufbahn auf.

Weshalb erwähne ich Yellen? Aus zwei Gründen: erstens, weil sie ein Modell dafür ist, dass die Laufbahn von Frauen oft anders verläuft als die von Männern; zweitens, weil Michael Schönenberger in seinem guten NZZ-Artikel «Scheinargument im Rentenalter»* (8. Februar 2014) eine Studie des Forschungsbüros Infras zitiert, welche empirisch belegt, dass auch in der Schweiz seit 2008 eine deutliche Zunahme der Erwerbsbeteiligung über das Rentenalter hinaus festzustellen ist, ganz besonders bei Frauen – aber auch bei den Männern. Yellen dürfte damit ein neues Modell für einen Berufsverlauf werden, der das lange Leben berücksichtigt.

Frauen erreichen ihren Karrierehöhepunkt später als Männer. Diese Erkenntnis kann sich für junge und jüngere Paare als hilfreich erweisen. Wenn Frauen und ihre Partner ihr Denken neu justieren und einsehen, dass bedeutsame Leistungen auch (lange) nach der Lebensmitte erbracht werden können und auch sollten, dann sind sie möglicherweise eher in der Lage, eine familiäre Work-Life-Balance mit weniger Druck und Dissonanzen zu finden. Aus meiner Erfahrung weiss ich selbst, wie lang das Leben noch ist, nachdem einen die Kinder nicht mehr Tag und Nacht brauchen. Wenn sich das Nest leert und der Nachwuchs langsam flügge wird, liegt noch ein beträchtlicher Teil des Arbeitslebens vor uns. Eltern, die ihr berufliches Engagement mit kleinen Kindern zurückschrauben, können später immer noch hohe Karrieresprossen erreichen.

Wäre es nicht eine befreiende Einsicht, daran zu denken, dass man im Leben nicht alles gleichzeitig erreichen und haben muss? Sich etwas zurücklehnen können in einer bestimmten Lebensphase verhindert nicht, sich in einer späteren Lebensphase nochmals richtig reinzuhängen. Genau deshalb ermahnen Experten immer wieder, Frauen und Männer sollten ihre Karriere nicht als Leiter, sondern als Gitter verstehen: Horizontale Veränderungen folgen vertikalen und diese wiederum folgen horizontalen Veränderungen. Es mag zwar länger dauern, um an die Spitze zu gelangen, aber das heisst überhaupt nicht, dass man sie nicht erreicht.

Selbstverständlich bin ich weit von der Behauptung entfernt, die zeitliche Ausdehnung der Karrierelaufbahn sei immer eine freie Wahl. Für Familien aus bescheidenen Sozialschichten oder für Alleinerziehende ist es eine Notwenigkeit, möglichst in kurzer Zeit einen angemessenen Lohn zu verdienen. Und auch für viele Männer und Frauen in körperlich anstrengenden Berufen ist dies keine willkommene Option.

Trotzdem ist es eine Perspektive, welche in unserer Gesellschaft fast vollkommen ausgeblendet wird. Dies ist politisch falsch, nicht familienfreundlich und auch nicht auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum langen Leben ausgerichtet. So zeigt die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, dass ältere Menschen heute viel fitter, veränderbarer, entwicklungsfähiger und auch entwicklungswillig sind als jede Generation zuvor. Paare sollten deshalb einen «Masterplan» für ihr gemeinsames Leben aufstellen und von der Vorstellung wegkommen, dass bis 40 alles erreicht sein muss: die Kinder, das Einfamilienhaus und zwei Karrieren auf dem Höhepunkt. Ein solcher Masterplan verhindert, dass – und dies wissen wir ebenfalls aus verschiedenen Studien – ein Paar dann doch zuerst auf die Karriere des Mannes setzt und die Frau den Wiedereinstieg oder die Karriere nicht mehr schafft. Herzstück dieses Masterplans ist «die Kunst des gemeinsamen Wachsens». Jürg Willi* (1985) hat vor fast dreissig Jahren aufgezeigt, wie dies geht: wie Paare gut miteinander leben können, wie sie Wünsche nach Selbstverwirklichung und Autonomie in der Auseinandersetzung mit dem Partner entwickeln und verwirklichen können.

Nicht nur Paare, auch unsere Gesellschaft braucht einen neuen Masterplan, der die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne in den Blick nimmt, auch das Potenzial jenseits des 50. Geburtstages. Ich bin überzeugt, dass in Zukunft viele Frauen und Männer «Yellens» werden können, welche ihren Karrierehöhepunkt erst spät erreichen werden, gar die Pensionierung hinausschieben oder sie mit Teilzeitarbeit verbinden. Janet Yellen ist ein Musterbeispiel dafür, dass länger arbeiten auch heissen kann, die Position zu erreichen, auf die man hingearbeitet hat. Es gibt viele Beispiele, dass das Berufsleben mit 65 Jahren nicht vorbei ist. Im Gegenteil, viele von ihnen laufen sich erst warm.

 

Literatur

*Schönenberger, M. (2014). Scheinargument zum Rentenalter, NZZ, 08.02., http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/scheinargument-zum-rentenalter-1.18238353

** Willi, J. (1985). Die Kunst gemeinsamen Wachsens - Ko-Evolution in Partnerschaft, Familie und Kultur. Reinbek: Rowohlt.

Die Akademisierungsfalle: ein Plädoyer für die pra...
Bloss keine schmutzigen Hände! Der Image-Faktor is...

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Kommentare 1

Gäste - Claudia Stauffer (website) am Mittwoch, 27. September 2017 11:27

Bravo!!
Die Persönlichkeit lernt und entwickelt sich gleichzeitig; und zwar das ganze Leben.
Es gibt keinen Grund, damit aufzuhören.
Voraussetzung dafür ist die Übernahme von Verantwortung; in erster Linie für sich selbst, in zweiter Linie für die eigenen Kinder, solange diese noch nicht erwachsen sind.

Bravo!! Die Persönlichkeit lernt und entwickelt sich gleichzeitig; und zwar das ganze Leben. Es gibt keinen Grund, damit aufzuhören. Voraussetzung dafür ist die Übernahme von Verantwortung; in erster Linie für sich selbst, in zweiter Linie für die eigenen Kinder, solange diese noch nicht erwachsen sind.
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