Über die Seniorisierung in Betrieben: Warum es oft schwer ist, in Betrieben älter zu werden
Ich habe Jahrgang 1950. Viele meiner Altersgenossinnen und -genossen haben sich schon vor einiger Zeit langsam oder abrupt aus dem Berufsleben zurückgezogen. Das ist aber kaum etwas Besonderes, sondern entspricht einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen, welches in allen westlichen Staaten beobachtbar ist. Obwohl ältere Menschen körperlich und geistig fitter sind als alle Generationen zuvor, steigen sie immer früher aus dem Arbeitsleben aus. Meine These ist dabei die, dass es neben den ökonomischen Ausstiegsanreizen keine Kultur der Arbeit für Ältere gibt. Das, was vielen von ihnen – und auch solchen, die durchaus noch arbeitswillig sind – angeboten wird, ist zu wenig auf die Potenziale des Alter(n)s zugeschnitten. Ich behaupte, dass es gerade die oft erfahrene «Seniorisierung» und zunehmende Geringschätzung ist, welche viele Menschen dazu bewegt, den Zeitpunkt ihres Abganges schon früh festzulegen und ab dann auch einen «Schongang» einzulegen.
In unserer Gesellschaft wird der Mensch während den ersten zwanzig bis dreissig Jahren ausgebildet und in den Beruf eingeführt. Danach arbeitet er im Beruf und verbringt schliesslich fast dreissig Jahre in der Phase, die wir «Ruhestand»nennen. Das ist absurd. Und zwar nicht nur, weil sich auf diese Weise die Lebensarbeitszeit auf etwa 30 Jahre verkürzt, sondern auch, weil Kognitionspsychologie, Lebensspannenforschung und Bildungswissenschaften schon lange nachweisen, dass Geist, Wissen und Erfahrung im Alter zulegen können. Der Mensch entwickelt sich, so lange er lebt. Das Wissen Älterer ist somit eine zentrale Ressource, die unsere Gesellschaft jedoch kaum nutzt. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und der damit verbundenen Bemühungen um Fachkräftesicherung bekommt diese Thematik jedoch eine neue Bedeutung. Dies haben diejenigen Betriebe erkannt, die verstärkt diskutieren, welchen Gewinn ältere Mitarbeitende darstellen und wie schwer es ist, ihre Fähigkeiten und ihre Expertise zu ersetzen.
Zwar darf man das Alter(n) nicht beschönigen, und auch die Forschung liefert keinesfalls nur gute Nachrichten: Im Bereich der biologisch bestimmten Mechanik der Intelligenz ist ein Rückgang bereits ab dem frühen Erwachsenenalter beobachtbar. Ob man das will oder nicht: Ältere Mitarbeitende werden von jüngeren Mitarbeitenden mit Sicherheit in der Fähigkeit zum Memorieren, in der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie im Lernen von Neuem und Komplexem überflügelt. Zwar können Ältere durch Training ausserordentlich positive Resultate in diesen Bereichen erzielen, doch bleiben die Unterschiede – wenn auch nicht mehr so gross – bestehen. Andererseits gibt es gute Nachrichten aus dem Bereich der kulturell bestimmten Pragmatik der Intelligenz. Hier sind positive Entwicklungen von Mitarbeitenden bis ins hohe Erwachsenenalter möglich. In erster Linie sind es Erfahrungs-, Sach- und Expertisewissen sowie Denkstrategien und Kreativität, welche sie gegenüber jüngeren Mitarbeitenden auszeichnen. Deshalb können sie beispielsweise verlangsamte Reaktionszeiten mit Berufs- und Lebenserfahrung ausgleichen.
Aus der Forschung zur Weiterbildung älterer Arbeitnehmender wissen wir, dass eine angemessene Personalpolitik, die auf Alterungsprozesse ausgerichtet ist, einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit leisten kann. Deshalb erstaunt, dass nur wenige Unternehmen in dieser Richtung innovativ sind. Weshalb werden die meisten Betriebe erst dann aktiv, wenn sie einen akuten Bedarf an Arbeitskräften haben? Weshalb haben sie kein Talent Management etabliert, das früh beginnt und auch auf ältere Arbeitnehmende ausgerichtet ist? In erster Linie aufgrund der herrschenden Altersstereotype, die meist negativer Art sind. Sie setzen Alter ausschliesslich mit Abbau, geringerer Innovationsfreudigkeit und mangelnder Leistungsbereitschaft («innere Kündigung») der Arälteren Arbeitnehmenden und auch mit mehr gesundheitlich bedingten Ausfällen gleich.
Betriebe müssten vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und dem Fachkräftemangel Zukunftsperspektiven suchen und neue Wege beschreiten. Das heisst: anstatt eine reaktive, eine proaktive und altersgerechte, d.h. lebenszyklusorientierte Personalpolitik aufbauen. Was zeichnet eine solche Personalpolitik aus?
- Sie setzt auf einen Beginn in jungen Jahren und sieht ein langfristiges Talent Management vor.
- Sie ermöglicht eine flexible Arbeitsorganisation.
- Sie setzt auf kontinuierliche Weiterbildung.
- Sie erlaubt einen flexibler Personaleinsatz (z.B. Telearbeit, flexible Arbeitszeiten, altersgemischte Teams, Jobrotation).Sie trifft Massnahmen zur Gesundheitsförderung.
- Sie reflektiert ihr betriebliches Altersbild.
Gerade den vorherrschenden Altersbildern in den Unternehmen kommt höchste Bedeutung zu. Denn negative Altersbilder erweisen sich in zweifacher Weise als Hindernis: Erstens werden ältere Arbeitnehmende auf dieser Basis kaum eine positive Weiterbildungsneigung entwickeln (oder entwickelt haben) und zweitens dürfte die Bereitschaft der Unternehmen bescheiden sein, spezielle Fördermassnahmen für sie in die Wege zu leiten.
«Älter und trotzdem innovativ» – das könnte zu einem neuen Programm der Personalpolitik in Betrieben werden. Dabei sollte eine altersgerechte Arbeit im Mittelpunkt stehen und nicht lediglich die lineare Fortführung der bisherigen Arbeit. Und zwar deshalb, weil 50+-Mitarbeitende über ein bemerkenswertes Potenzial im Bereich des Expertise- und Erfahrungswissens verfügen, in Bereichen jedoch, in denen Geschwindigkeit und Flexibilität gefordert sind, kaum mehr das Niveau eines jüngeren Mitarbeiters oder einer jüngeren Mitarbeiterin erreichen. Erwerbsarbeit, die bis zur Pensionierung – oder gar bis zum 70. Lebensjahr – die gleiche bleibt, ist deshalb der falsche Ansatz. Vielmehr gilt es, auf der Basis solcher Erkenntnisse neue Modelle zu entwerfen und sie in der Praxis zu konkretisieren. Ältere Mitarbeitende könnten so als old professionals zu einer neuen Fachkräfte-Avantgarde heranreifen.
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