Warum sind Forschungsergebnisse oft nur heisse Luft?

In diesem Blog übe ich Kritik, aber auch ein wenig Selbstkritik. Mein Thema sind die Forschungsstudien und ihre verbreitete Wirkungslosigkeit. Genauer gesagt: die Ergebnisse vieler Studien der Bildungsforschung, die oft wie heisse Luft erscheinen, werden sie doch nicht selten nur kurz zur Kenntnis genommen und dann weggelegt. Ein paar Beispiele:

Studien zur frühen Sprachförderung zeigen, dass sie nur wirkt dann wirkt, wenn das Personal gut geschult ist und die Förderung früh einsetzt, regelmässig, intensiv und langfristig stattfindet. Trotz solch eindeutiger Resultate beginnen viele Projekte nach wie vor zu spät. Zudem sind zwei Stunden pro Woche viel zu kurz, und wenn nach einem Jahr bereits wieder Schluss ist, bleibt die Wirksamkeit auf der Strecke.

Studien zu den Wirkungen von Klassengrössen belegen seit langem, dass Kinder in kleinen Klassen nicht mehr lernen als in grossen Klassen. Trotzdem werden kleine Klassen nach wie vor als die Lösung für jegliche Schulprobleme herangezogen.

Studien zur Berufswahl weisen nach, dass die Eltern die heimlichen Meinungsmacher sind und nicht die Lehrkräfte, die Berufsberatungen oder gar die PR-Massnahmen. In der Regel legen Väter und Mütter spätestens in der vierten Klasse fest, was aus ihrem Nachwuchs werden soll. Trotzdem setzt Elterninformation erst in der Oberstufe ein, also dann, wenn die Meinungen längst gemacht sind.

Zu diesen und anderen Themen gibt es viele und auch internationale Forschung. Häufig tragen sie schöne Kürzel: NEPS, BIKS, MARKUS, MIRAGE, CANDELA etc. Man könnte somit aus ihnen einen grossen Nutzen ziehen, also Vieles besser wissen und manche Reform wirksamer gestalten – oder auch zum Schluss kommen, dass man sie besser bleiben lässt. Auch mancher Streit liesse sich vermeiden, würde man mehr auf empirisch fundierte Forschungsergebnisse zurückgreifen.

Warum ist Bildungsforschung häufig nicht mehr als heisse Luft, die schnell wieder verpufft? Ich sehe zwei mögliche Gründe:

Der erste Grund ist der, dass zu viele ähnliche Studien Schlag auf Schlag durchgeführt werden und kaum Zeit dazwischen bleibt, die Ergebnisse gründlich und adressatengerecht aufzubereiten, sie in konkrete Umsetzungsmassnahmen zu überführen und dann auch zu kontrollieren, ob sie in der Praxis etwas taugen. Den zweiten Grund sehe ich darin, dass zwischen den Forschungserkenntnissen und der Nutzung wissenschaftlichen Wissens eine grosse, ernüchternde Kluft besteht. Wer automatisch davon ausgeht, dass es einen gradlinigen Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gibt, der irrt. Deshalb sind der beste und farbigste Forschungsbericht, aber auch jede Medienmitteilung oder die schönste Broschüre noch kein Garant dafür, dass Politik, Bildungsadministrationen und Lehrkräfte die Ergebnisse zur Kenntnis nehmen. Weshalb? Weil potenzielle Nutzerinnen und Nutzer eine spezifische Strategie haben, wie sie Forschungswissen inspizieren:

  • Sie machen einen Wahrheitstest, indem sie die Ergebnisse prüfen, ob sie für sie selbst nachvollziehbar sind und wissenschaftlich glaubwürdig erscheinen.
  • Sie machen einen Nützlichkeitstest, indem sie die Ergebnisse prüfen, ob sie zu ihrer Arbeit, zu ihrem Denken und zu ihren Überzeugungen passen, und, ob sie praktikabel und praxisnah sind.

Es versteht sich somit von selbst, dass viele, auch interessierte Laien, die Forschungsstudien schnell wieder weglegen, wenn sie die empirischen Ergebnisse nicht lesen können und deshalb auch nur schwer verstehen – ausser, sie haben ein Studium absolviert und auch ein Seminar in statistischen Methoden. Genauso oft legen sie solche Erkenntnisse jedoch auch weg, wenn sie gegen ihre Überzeugungen sind oder nicht dem Mainstream entsprechen.

Was bedeutet dies für uns Forschende? In erster Linie, dass wir eine zusätzliche Aufgabe bekommen: Wir sollten die Ergebnisse in eine allgemein verständliche Sprache übersetzen, sie abnehmergerechter aufbereiten, damit die Bildungspolitik die Daten auch in politisch heiklen Kontexten diskutieren kann. Darüber hinaus müssten wir uns stärker darum bemühen, die Ergebnisse anwendbarer zu gestalten. Eine solche «Trivialisierung» hat aber nichts mit einer Niveausenkung, sondern mit einer Niveauänderung zu tun. Sie muss gezielt auf den common sense, auf die Denkstile von Bildungspolitik und Bildungsadministration sowie interessierten Laien ausgerichtet werden.

Schliesslich sind aber auch Politik und vor allem Lehrkräfte aufgefordert, sich stärker für Forschungsergebnisse zu interessieren und diese auch als Chance zu betrachten, die eigenen Meinungen und Überzeugungen zu überprüfen und vielleicht ein wenig zu revidieren.

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