Ein iPhone für einen Lehrvertrag? Der Lehrlingsmangel treibt seltsame Blüten
Erschienen in: Aargauer Zeitung / Nordwestschweiz, 26.01., 18.
Es ist paradox: Viele Betriebe beklagen, dass sie ihre Ausbildungsplätze nicht mehr mit geeigneten Lehrlingen besetzen können. Trotzdem waren im Dezember 2014 ca. 9% der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit und 16‘000 im Übergangssystem. Damit werden Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen der obligatorischen Schule und einer Berufslehre oder einer weiterführenden Schule. Dazu gehören etwa ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-Pair-Stelle oder ein Praktikum.
Die Berufsbildung steht vor grossen Herausforderungen. Sie muss nicht nur jungen Menschen mit schlechten Startchancen den Übergang in die Ausbildung durch geeignete Massnahmen erleichtern, sondern auch für leistungsstarke Jugendliche attraktiv bleiben oder wieder werden. Weil aufgrund des Geburtenrückgangs und des Trends zum Gymnasium immer weniger geeignete Lehrlinge auf dem Markt sind, können sich leistungsstarke Jugendliche ihren Ausbildungsplatz aussuchen. Besondere Schwierigkeiten bei der Nachwuchssuche haben Bauberufe, das Gastgewerbe oder Betriebe im Lebensmittelhandwerk wie Metzger, Bäcker oder Konditoren. Sie gelten als wenig attraktiv, weil Arbeitszeiten, Verdienstmöglichkeiten oder Berufsimage nicht den Vorstellungen vieler Jugendlicher (und oft auch ihrer Eltern!) entsprechen. Folglich haben Firmen und Verbände begonnen, sich besser zu vermarkten.
Viele von ihnen sind bereits ausgesprochen aktiv geworden, einige haben auch gute Strategien entwickelt. Besonders zu erwähnen sind zwei aktuelle Kampagnen des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). «Berufsbildungplus.ch» sucht gezielt Talente für die Berufsbildung, während mit «Match-Prof» die Zahl der offenen Lehrstellen markant gesenkt werden soll.
Aber lange nicht alle Massnahmen sind gut durchdacht, einige Lockvogel-Strategien sind besonders problematisch. Dazu gehören Arbeitgeber, die aus Angst vor unbesetzten Ausbildungsplätzen nun schon Prämien wie Fahrstunden, gratis SMS- oder Handy-Minuten, ein iPhone oder auch ein Abonnement für ein Fitness-Studio anbieten. Noch weiter geht eine Gastronomiekette, die den besten Lehrlingen ein Betriebsauto zur Verfügung stellt. Offenbar scheuen manche Betriebe keine Kosten, um die Jugendlichen wie begehrte Stars zu umwerben. Manchmal scheint dies zu funktionieren. Aber der Trend zu Belohnungen und Geschenken dürfte sich kaum durchsetzen.
Zwar reicht es bei weitem nicht aus, wenn Firmen ihre offenen Lehrstellen lediglich ausschreiben. Wer sich so verhält, hat im Verteilungskampf um die klügsten Köpfe oder die goldensten Hände das Nachsehen. Denn grosse Unternehmen grasen den Markt schon sehr früh ab. Gerade für kleinere Unternehmen muss deshalb das Motto gelten: Jugendliche möglichst gezielt schon in der Schule ansprechen, umfassend informieren, am besten auch über Einladungen in den Betrieb und über das Angebot von Zusatzqualifikationen. Vor allem aber sollten sich Firmen um gehaltvolle Schnupperlehren bemühen. Eine gute Schnupperlehre ist wichtiger als jede in Aussicht gestellte Prämie.
Verheerend wäre, wenn Betriebe mangels geeigneter Kandidaten ihre Ausbildungsplätze nicht mehr besetzen. Diese Taktik würde die Fachkräftesicherung enorm schwächen. Deshalb muss der Lehrlingsmangel zum Anlass genommen werden, die Rekrutierungsstrategien zu überdenken. Wer ausschliesslich auf Schulnoten, Leistungstests und einen hohen Schulabschluss setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein. Denn solche Kriterien sagen wenig aus über das Potenzial, das in einem jungen Menschen steckt. Nur allzu bekannt ist, dass Jugendliche, welche diesen Kriterien nicht entsprechen, gar keine Chance bekommen, im Bewerbungsprozess zu zeigen, wozu sie fähig wären. Rekrutierungsverfahren müssten deshalb stärker auf Motivationsfaktoren und Persönlichkeitsmerkmale setzen: auf ein gutes Selbstvertrauen, auf das Interesse am Betrieb und auf die Bereitschaft, sich reinzuknien und Neues zu lernen.
Man kann das Glas immer als halbleer oder als halbvoll betrachten. Der Lehrlingsmangel bietet den Betrieben eine Chance zu erkennen, dass sie es sind, welche auf eine neue Art und Weise aktiv werden müssen. Jammern ist definitiv passé.
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