Arbeiterkinder an die Uniǃ Was die Diskussion über die Akademikerfalle ausblendet
Das Gerede von der Akademikerschwemme ärgert mich, auch deshalb, weil Berufsbildung und Gymnasium immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Es muss nicht jeder studieren, heisst es, leistungsstarke Schüler wären in einer Berufslehre oft besser aufgehoben als im Gymi. Stimmt! Und zwar für solche, die eigentlich handwerkliche Begabungen hätten, sich aber kaum für akademische Inhalte interessieren und die Matura nur mit Ach und Krach hinkriegen. Für eine jenseits junger Migranten nahezu unbeachtete Gruppe trifft jedoch Umgekehrtes zu: Kinder aus einheimischen Arbeiterfamilien, die das intellektuelle Potenzial für ein Studium hätten, aber niemals eine Gelegenheit hierfür bekommen. Schaut man nämlich den empirischen Tatsachen ins Auge, dann wird dies sofort deutlich: Haben die Eltern studiert, so tun dies 88% der Kinder auch, aus Arbeiterfamilien schafft es hingegen nur knapp jeder Vierte (24%). Ihr Anteil hat sich seit den 1970er Jahren lediglich um 10% erhöht. Der enorme Zustrom zu den Gymnasien und Universitäten nährt sich deshalb vor allem vom Nachwuchs gut situierter Familien. Ihr Anteil hat sich in den letzten dreissig Jahren nahezu verdoppelt.
Leben wir somit in einem ungerechten Land? Ja, wenn man den so oft benutzten Begriff der Chancengleichheit heranzieht. Er meint, dass allen Menschen jeder Zugang zur Ausbildung gleichermassen offen stehen muss. Mit Blick auf die Arbeiterkinder ist dieses Postulat noch nicht verwirklicht. Unserer Gesellschaft geht deshalb jedes Jahr ein grosses Reservoir an solchem intellektuellen Potenzial verloren.
Weshalb ist dem so? Als Hauptgrund wird meist die Schule genannt, der es nicht gelingen würde, die herkunftsbedingten Benachteiligungen junger Menschen auszugleichen. Dies ist jedoch zu eng gedacht. Zwar spielt die Schule mit Sicherheit eine Rolle, die grössere Bedeutung hat jedoch die Familie. Denn oft sind einfach gestellte Eltern dem Gymnasium enorm skeptisch eingestellt. Die akademische Welt ist ihnen fremd, und sie sind überzeugt, dass junge Menschen, die studieren, nicht wissen, was arbeiten heisst.
Glücklicherweise gibt es immer wieder Arbeiterkinder, welche es aus eigener Kraft oder mit Unterstützung eines Mentors trotzdem schaffen. An der Uni erwarten sie jedoch neue Bewährungsproben. Sie müssen aufeigene Faust und ohne Elternrat eine für sie vollkommen neue akademische Welt erobern. Deshalb kommen sich viele hier zunächst einmal deplatziert vor. Sie haben Angst, im intellektuellen Zirkel nicht mithalten zu können und nicht die richtige Sprache zu sprechen. Gleichzeitig haben sie Hemmungen, den Mitstudenten zu sagen, wo sie herkommen. Wenn sie erzählen, dass ihre Mutter «nur» Schneiderin ist und der Vater in der Fabrik arbeitet, dann fühlen sie sich oft wie von einem anderen Stern. Denn viele der bildungsnahen Studierenden haben noch nie vorher mit Arbeiterkindern engeren Kontakt gehabt.
Vielen Studentinnen und Studenten, die in Arbeiterfamilien gross geworden sind, fällt es verständlicherweise schwer, die unterschiedlichen Lebenswelten zusammenzubringen. Das fängt schon damit an, wenn sie dem eigenen Vater erklären sollen, was studieren überhaupt heisst, weshalb sie nichts verdienen und was sie eigentlich den ganzen Tag an der Uni machen. Das kann ein harter Bruch sein. Deshalb braucht es auch an den Universitäten dringend Mentoren, die Studierende aus Arbeiterfamilien gezielt unterstützen.
Wie jedoch können wir grundsätzlich mehr intellektuell begabte Arbeiterkinder an die Universität bringen? Mit Sicherheit nicht, indem man erst bei der Matura mit Kampagnen oder finanziellen Unterstützungsleistungen ansetzt, sondern viel früher, nämlich in der Primarschule. Hier müssen ihre Begabungsreserven entdeckt und ihre Eltern ermutigt werden, an das akademische Potenzial ihres Kindes zu glauben. Nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Trainer von Vereinen, Pfarrpersonen etc. spielen dabei eine unschätzbare Rolle.
Aber auch die Bildungspolitik täte gut daran, ihre Anstrengungen verstärkt auf diese Gruppe junger Menschen auszurichten. Sie sind ganz besonders darauf angewiesen, dass nicht nur über Chancengleichheit gesprochen, sondern sie auch praktiziert wird.
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Kommentare 8
Sie reden mir, als Sohn einer Schneiderin und eines Fabrikarbeiters aus dem Herzen.
Meine Schwester und ich haben genau dies, von Ihnen beschriebene, erlebt.
Endlich einmal ein Artikel über die Arbeiterkinder die, wenn sie richtig informiert werden und wirklich wollen, sehr wohl einen akademischen Weg einschlagen können.
Von den Vertretern der Chancengleichheit wird immer wieder mit der finanziellen staatlichen Unterstützung postuliert, die es heute materiell möglich macht für Arbeiterkinder zu studieren wenn sie nebenbei arbeiten, dass ihnen meist leicht fällt. Die Chancenungleichheit beruht aber genau auf den Argumenten die Sie so vortrefflich zusammenfassen!
Ich möchte Ihnen herzlich zu diesem Artikel gratulieren!
Sehr geehrter Herr Mühlheim
Merci für Ihre Rückmeldung. Das Thema Arbeiterkinder gehört in die bildungspolitische Agenda, genau in gleichem Ausmass wie dasjenige der Migrantenkinder. Mit freundlichem Gruss
Margrit Stamm
Sie sagen es genau so wie es ist Frau Stamm. Und wenn man bedenkt, dass jeder 3.StudentIn in der Schweiz das Studium schliesslich abbricht ist es umso schlimmer, dass das viele Steuergeld dann noch vergeudet wurde. Leider ist die Schweiz kein Vorbild, obwohl immer wieder vom tollen Bildungssystem gesprochen wird. Viel begabte bis hochbegabte, auch MigrantInnen arbeiten oft als "moderne Sklaven" , werden schlecht bezahlt während die "Studierten" schliesslich gut bezahlte Jobs ergattern können, obwohl sie längst nicht immer die besseren "Arbetskräfte " sind. Dagegen sollte unbedingt etwas getan werden.
Besten Dank Frau Ilg für Ihren wertvollen Kommentar. Die Schweiz ist gerade in Bezug auf Arbeiterkinder kein Modell - im internationalen Vergleich ganz besonders nicht.
Mit freundlichem Gruss, Margrit Stamm
Auch mich beschäftigen diese Fragen. Selbst aus einer Arbeiterfamilien stammend, habe ich nun drei Kinder im Primarschulalter, und wünsche mir, dass sie ihre Talente entfalten können, sei es akademisch oder berufsbildend. Und wie Sie, Frau Stamm, erwähnen, merke ich, dass es wenig Unterstützung gibt. Da ich selbst die akademischen Wege nicht kenne (habe es bis zur höheren Fachschule geschafft), kann ich diese Möglichkeiten den Kindern bloss sehr wage beschreiben und hoffen, dass sie den Mut haben, diesen Weg einzuschlagen, so sie entsprechende Ambitionen verspüren.
Zudem das Handwerkerumfeld, in dem wir Leben, diese Sichtweise nicht unterstützt. Die Devise heisst:
Mache zuerst einen Berufsabschluss, dann kannst du immer noch weiterschauen (was zum Glück ja auch möglich ist, mit unserem Bildungssystem, oft aber nicht genutzt wird. Wer zahlt denn noch die weiterführenden Ausbildungen?)
Ich freue mich darauf, in einigen Jahren Bilanz ziehen zu können. Ich bin sehr froh, dass diese Themen von wissenschaftlicher Seite bearbeitet wird. Vielen Dank für diese Forschungen!
Sehr geehrte Frau Ober
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Das Beste, was Sie Ihren Kindern mitgeben können, ist, sie spüren zu lassen, wie sehr sie an ihre Fähigkeiten glauben. Den eigenen Weg zu gehen und sich durch die persönliche Motivation führen zu lassen, macht immer auch ein wenig einsam. Alles Gute und beste Grüsse,
Margrit Stamm
Sehr geehrte Frau Stamm
Besten Dank, dass Sie sich der Thematik annehmen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass der akademische Weg für Kinder aus 'einfacheren' Verhältnissen sehr schwierig ist.
Wieso ist es schwierig? Da sind die Eltern, die Angst haben, ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen zu können (als Kind trägt man diese Ängste mit), die sich lange überlegen müssen, wie sie das ganze finanzieren können. Da sind Lehrpersonen, die den Eltern und dem Kind vom Gang an die Maturitätsschule abraten - ihre eigenen Kinder trotz nicht besserer Begabung auf alle Fälle an die Maturitätsschule schicken. Oder da ist der Lehrer, der einem Jungen aus einfacheren Verhältnissen (mit einer psychisch schwer kranken Mutter!) nach einer 6 in Physik mitteilte, dass er dann schon noch schlechter werde. Da sind die Kolleginnen und Kollegen an der Bezirksschule, Maturitätsschule oder der Universität, die niemals das Geld für ihren Sprachaufenthalt in ihrer Freizeit und ihren Ferien selber erwirtschaften müssen. Die meisten kennen auch den Umstand nicht, das beide Eltern arbeiten müssen.
Trotz allem habe ich den Weg an die Maturitätsschule gewagt. Ich habe die C-Matura gemacht (für Mädchen sehr exotisch). Meine Schwestern sind beide sehr froh, dass ich als Älteste diesen Schritt gewagt habe. Ich habe ihnen den Weg geebnet. Beide Schwestern haben erfolgreich studiert. Ich habe den Schritt nach der Matur nicht gleich gewagt. Neben Lehrerin hätte ich auch gerne Physik oder Medizin studiert. Das habe ich jedoch nicht gewagt, die Angst war zu gross. Ich habe dann später an der Uni studiert und habe nun in meinem Berufsumfeld Einfluss auf die Förderung von jungen Menschen aus einfachen Verhältnissen (zwar einen beschränkten, aber immerhin).
Als Mutter von zwei Kindern schockiert mich jedoch die Tatsache, dass die Verhältnisse nach wie vor so sind wie vor Jahren. Nur mit dem Unterschied, dass Eltern aus 'einfacheren' Verhältnissen nun 'bildungsambitionierter' sind. Es scheint, als für ob viele von ihnen nur das Gymi/die Maturititätsschule der richtige Weg ist. Obwohl sehr verständlich, schockiert mich das zugleich. Werden doch 'Arbeiterjobs' so auch durch einige Arbeiter indirekt als minderwertig zementiert, oder nicht?
Wieso ich all das schreibe: Ich möchte damit sagen, dass man dennoch einen akademischen Weg gehen kann. Der Weg ist steinig, aber das alles habe ich nie als Nachteil empfunden. Es hat mich eher bescheiden und demütig gegenüber 'einfacheren' Jobs gemacht. Auch habe ich gelernt, meinen eigenen Weg zu gehen. Weiter möchte ich auch sagen, dass es viele Lehrer, Menschen in Vereinen, Nachbarn etc. gibt, die die Situation von Kindern aus einfacheren Verhältnissen durchaus wahrnehmen. In meinem Umfeld nehme ich sehr viele Menschen wahr, die sich aktiv um Kinder aus 'einfacheren' Verhältnissen kümmern. Manchmal braucht es von solchen Leuten nur einen Satz oder einen Stoss nach vorne. Bei mir war es so. Solche Leute müssten in Ihrem Tun bestärkt werden!
Was ich mir wünschte:
- dass es für jedes Kind irgendwo einen Mentor/eine Mentorin gibt, der/die ihm Zuspruch gibt.
- dass alle Berufsgruppen in einer breiten Öffentlichkeit Wertschätzung erhalten (Es braucht alle!)
- dass bei Kindern und Jugendlichen der jeweilige Background bei Beurteilungen mehr berücksichtigt wird
- dass bei Kindern und Jugendlichen bei der Beurteilung auch ausserschulische Aktivitäten und Belastungen mehr einbezogen würden (z.B. Krankheit Eltern, Geld verdienen, Geschwister daheim hüten, freiwilliges Engagement)
Sehr geehrte Frau Hohl
Besten Dank für Ihre interessanten Ausführungen. Wie Sie aus den Kommentaren ersehen, hat dieser Blog viele Reaktionen ausgelöst. Gut so! Dies ist für mich Motivation, mich näher und differenzierter mit der Thematik zu beschäftigen. Der Satz von Ihnen, der bei mir am meisten hängen bleibt, ist der, dass es von gewissen wichtigen Menschen nur einen einzigen Satz oder einen Stoss nach vorne braucht. Hier müssen wir ansetzen.
Seien Sie freundlich gegrüsst
Margrit Stamm