In der Berufsbildung dominiert die Defizitperspektive

Dass Stichworte wie Talente, Begabungen, Expertise, Leistungsexzellenz – oder wie immer man Potenziale nennen will – Eingang in den Berufsbildungsdiskurs gefunden haben, ist glücklicherweise auch eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes. Die in Art. 18 und Art. 21b festgehaltene Pflicht zur Förderung leistungsstarker Berufslernender weist der Ausbildung des Nachwuchses eine grundlegende Bedeutung und den Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben eine spezifische Verantwortung  und Innovationsbereitschaft zu. Berufliche Begabten- und Talentförderung ist damit zu einer wichtigen, berufspädagogischen Aufgabe geworden. Auch der Bundesrat hat verschiedentlich von der Ausschöpfung der Begabtenreserve in der Schweizer Berufsbildung gesprochen.

In der Praxis sieht es allerdings etwas anders aus. Zwar gibt es einige bemerkenswerte Leuchttürme, doch trauen sich bis heute zu wenige Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe, die Idee systematischer Talentförderung in die Praxis umzusetzen. Eine grosse Mehrheit orientiert sich nach wie vor stark am Ungenügen der Jugendlichen respektive an deren Leistungsschwächen. Ein Umdenken in den Köpfen ist deshalb für die Berufsbildung die grösste zukünftige Herausforderung. Dabei versteht sich von selbst, dass man nicht von der Qualität der beruflichen Ausbildung sprechen, gleichzeitig jedoch vor allem das Negative im Blick haben und die fehlenden leistungsstarken Jugendlichen beklagen kann.

Die Sicherung von Könnerschaft im Berufshandwerk ist heute wichtiger denn je. Deshalb darf der Königsweg der Begabten- und Talentförderung nicht weiterhin in erster Linie Akademia heissen. Die letzten Jahre haben nämlich mehr als deutlich gezeigt, dass die Berufsbildung immer stärker in Gefahr gerät, zum Durchgangsstadium von Akademikerkarrieren zu werden und schulisch qualifizierte Jugendliche nach der Berufsausbildung in ein Fachhochschulstudium abwandern. Die Höhere Berufsbildung ist dabei eindeutig ins Hintertreffen gelangt. Zukünftig wird es folgedessen eine zentrale Herausforderung sein, die Berufsausbildung nicht nur als Zubringerin für die Fachhochschulen, sondern ebenso als Garantin der Entdeckung beruflich-praktischer Reserven und der Förderung der beruflichen Qualität in der Höheren Berufsbildung zu verstehen.

Deshalb sind gerade den Schulabgängern aus Real- und Sekundarschulen spezifische berufliche Qualifikationschancen zu ermöglichen. Obwohl sie aufgrund ihrer fachorientierten Begabungsprofile nicht in den akademischen Weg der Berufsmatura einmünden können, verfügen viele von ihnen über beträchtliche berufspraktische Talente. Gleiches gilt oft auch für benachteiligte Migrantinnen und Migranten. Mit Blick auf beide Gruppen dominieren allerdings Klagen über ihre mangelnde Ausbildungsreife sowie ihre Tendenz zu Lehrabbrüchen und damit zu fehlenden Berufsabschlüssen. Eine Folge dieser Defizitperspektive ist die Tatsache, dass Potenziale bei solchen Jugendlichen gar nicht vermutet, deshalb nicht erwartet und auch nicht gesucht werden.

Angesichts der aktuellen Entwicklung ist anzunehmen, dass Wirtschaft und Industrie zukünftig mehr denn je auf die Möglichkeit angewiesen sein werden, fachlich begabte Mitarbeitende rekrutieren zu können, die das handwerkliche Metier beherrschen und die berufliche Ausbildung nicht lediglich als Durchgangsstadium zur Fachhochschule nutzen. Ob sie Abgänger von Real- oder Sekundarschulen sind, dürfte deshalb eine unbedeutende Rolle spielen. Wesentlich ist ihr Können, das sie in der beruflichen Ausbildung haben entwickeln und unter Beweis stellen können.

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