Nur das Gymi ist gut genug!

Im Kanton Zürich hat ein Sechstklässler im letzten Frühling die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium nicht bestanden, weil sein Aufsatz nur mit einer 2 benotet worden war. Die Eltern rekurrierten, zuerst bei der Bildungsdirektion, dann beim Verwaltungsgericht. Dieses hat nun entschieden, dass der Aufsatz neu beurteilt werden muss*.

Dies ist noch keine bemerkenswerte Geschichte. Bemerkenswert ist jedoch, dass Rekurse in allen Kantonen zunehmen und auch vor der Universität nicht Halt machen. Erstaunlicherweise sind es auch hier noch die Eltern und nicht die Studierenden selbst, welche die Rekurse in die Wege leiten und sie verantworten.

Warum engagieren sich Eltern derart für ihre Kinder, auch wenn sie schon erwachsen sind? Warum ist nur das Gymnasium gut genug, und weshalb wird eine nicht bestandene Prüfung zur Katastrophe? Unser Bildungssystem ist ja enorm durchlässig, so dass auch «Spätzündern» viele Optionen von der Berufslehre bis an die Universität offen sind und Eltern folgedessen  entspannter sein könnten.

Viel zu einseitig ist die oft gehörte Erklärung, Väter und Mütter seien zu ehrgeizig, sie wollten aus ihrem Nachwuchs perfekte Kinder machen und sich dann mit ihrem Erfolg brüsten. Zutreffender ist, dass gesellschaftlich bedingte Hintergründe Eltern in ihren Bildungsambitionen stark beeinflussen. Neoliberalistische Strömungen haben in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur die Wettbewerbsorientierung stark gefördert, sondern auch die individuelle Eigenverantwortung für Berufserfolg und Familienglück. Für Väter und Mütter heisst dies, dass sie nicht nur für ihr persönliches Wohlergehen selbst verantwortlich sind, sondern auch für das ihrer Kinder. Ist der Nachwuchs erfolgreich, ist das ihr Verdienst, gerät er nicht nach Wunsch, sind sie ebenfalls Schuld, weil sie «aus ihren Kindern zu wenig gemacht haben». Und gemeint sind meistens die Mütter.

Frauen fühlen sich heute mehr denn je für die Erziehung und Förderung ihrer Kinder zuständig (und oft auch allein verantwortlich), auch dann, wenn sie zu einem grossen Teil berufstätig sind. Sie tun deshalb sehr viel, um ihre Kinder von den gesellschaftlichen Unsicherheiten zu schützen und ihnen eine optimale Schullaufbahn zu ermöglichen. Solche Anstrengungen nennt die Forschung «Statusabsicherung». Dazu gehören viele Aktivitäten, von denen drei besonders verbreitet sind: die schulische, die talentbezogene und die emotionale Statusabsicherung.

  • (Vor-)Schulische Statusabsicherung**: Sie beginnt schon sehr früh, mit der Wahl der Kita, der Spielgruppe oder des Förderkurses. Vor allem die Mütter machen sich viele Gedanken zur Entwicklung des Kindes oder zur besten Förderung. Aber sie forschen auch bei Freunden, Nachbarn und Verwandten nach, was diese genau tun und wie. Im Schulalter gehören dann auch Analysen dazu, ob das Kind die richtige Lehrperson hat, den richtigen (aber nicht zu anspruchsvollen) Schulstoff vermittelt bekommt, ob die Hausaufgaben verständlich sind, die Schulkameraden angemessen sind und das Kind in der Schule richtig behandelt wird.
  • Talentförderung als Statusabsicherung: Weil es immer mehr Bücher zu Themen wie «Jedes Kind ist hochbegabt» gibt oder zu «Erkennen Sie, was in Ihrem Kind steckt», wird es für Eltern fast zwingend, auch beim eigenen Kind Talente zu suchen und zu fördern. Dies tun sie mittels ausser- und innerfamiliären Aktivitäten, Förderkursen oder auch Feriencamps etc. Wie Eltern dies tun, ist aber sehr unterschiedlich. An einem extremen Pol sind die «Tigermütter»***, welche aus ihren Kindern Wunderkinder machen möchten. Vor allem in der musischen oder sportlichen Talentförderung sieht man auch viele «Goldmedaillen-Eltern»****, welche vom Nachwuchs erwarten, dass er unter Druck Höchstleistungen erbringt. Auf der anderen Seite gibt es Väter und Mütter, welche der wettbewerbsorientierten Form von Talentförderung widerstehen. Dies ist aber nicht einfach, weil sie oft mit Vorwürfen eingedeckt werden, sie würden den «Kindern etwas vorenthalten» und ihr Talent vergeuden.
  • Emotionale Statusabsicherung: Ebenso grosse Anstrengungen unternehmen viele Eltern, damit ihr Kind glücklich und sein Wohlbefinden sichergestellt ist. Vor allem Mütter sind bemüht, seine Bedürfnisse über die eigenen zu stellen, immer zu wissen, wie es ihm geht und es auf keinen Fall leiden zu sehen. Deshalb klammern sie möglichst alle Unannehmlichkeiten aus und halten jegliche Unbill des Alltagslebens von ihm fern. Oft sagen Mütter sogar, ihr erstes und einziges Ziel sei, dass ihr Kind «glücklich sei». Leider ist diese Art von Glück ein schwer fassbares und kaum einzulösendes Ziel.

Diese drei Formen von Statusabsicherung ist für Kinder ohne Zweifel von einem gewissen Nutzen, weil sie vor dem Misserfolg bewahrt werden, den Weg ins Gymnasium nicht zu schaffen und sie auch ihre Talente entfalten können. Darüber hinaus wachsen sie in einem sehr behüteten und emotional ausgesprochen liebevollen Umfeld auf. Damit können aber auch viele psychische Konsequenzen verbunden sein. Beispielsweise im Sport, wenn Kinder immer siegen sollten, jedoch lediglich normale Leistungen zu erbringen im Stande sind. Oder wenn sie zu Bestnoten in Deutsch und Mathematik gepusht werden, dadurch jedoch ihre an sich breiten Interessen in Literatur, Kunst oder Naturwissenschaft verlieren. Schliesslich kann sich auch die mütterliche und väterliche Angst um die Wettbewerbsfähigkeit des Kindes auf es selbst übertragen und Spannungen, Verweigerung oder körperliche Beschwerden zur Folge haben. Wenn zudem vor allem Mütter für ihr Kind alles richten, dann gewöhnt es sich an solche Dienstleistungen und entwickelt den Anspruch, nicht es selbst, sondern die Umgebung sei für sein Glück verantwortlich. Dies wiederum kann zu einem Verhalten gelernter Hilflosigkeit führen.

Intensive, perfekte Eltern- resp. Mutterschaft hat negative Auswirkungen, nicht nur auf die Frauen selbst, sondern ebenso auf die Kinder. Selbstverständlich ist es keine Frage, dass die Beziehung zwischen Mutter, Vater und Kind enorm wichtig und auch entscheidend ist für ein gesundes Aufwachsen. Doch elterliche Überinvestitionen führen zur Paradoxie, dass das Kind abhängig wird und zu kurz kommt. Es kann nicht selbstständig werden, Herausforderungen nicht alleine meistern und auch keine Frustrationstoleranz lernen.

Es genügt nicht, Eltern lediglich aufzufordern, weniger in ihren Nachwuchs zu investieren. Notwendig sind andere Denkmuster. Wir brauchen vor allem eine Gesellschaft, welche Eltern weniger schuldig spricht, eine Politik, welche sie in ihrer Arbeit unterstützt – und wir brauchen Männer und Frauen, die sich von der Verpflichtung zu intensiver Elternschaft emanzipieren und versuchen, lediglich hinreichend gute Eltern zu sein. Die Kinder werden es ihnen danken – auch wenn es vielleicht nicht direkt ins Gymnasium reicht. Janusz Korczak hat einmal formuliert «Jedes Kind hat das Recht, das zu sein, was es ist.»

Literaturhinweise

*http://www.nzz.ch/zuerich/aktuell/zuercher-verwaltungsgericht-per-rekurs-ans-gymnasium-ld.108732

**Bude, H. (2011). Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München: Hanser.

***Chua, A. (2011). Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte. München: Hanser.

**** Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

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