Die Lüge der Quality Time

Paare erleben die Zeit in der Familie und am Arbeitsplatz zwar unterschiedlich, doch an beiden Orten dominiert eine Effizienzkultur, die früher nur für den beruflichen Bereich gegolten hat. Überall sollte man sich ständig zu neuen Leistungen antreiben: zu Hause die Quality Time nicht vergessen, am Arbeitsplatz das Total Quality-Management-System leben und in der raren Freizeit auch noch die Selbstoptimierung pflegen. Überall geht es um Qualität.

Quality Time als Balsam für die Seele

Die Botschaft, dass nicht die Quantität der Zeit, welche Vater und Mutter mit den Kindern oder in Zweisamkeit verbringen, ausschlaggebend ist, sondern die Qualität, ist deshalb Balsam für die Seele vieler Paare. Mit Qualitätszeit gemeint sind Zeitoptionen für gemeinsame Aktivitäten, die bewusst als Familienzeit wahrgenommen werden. Diese Definition ist jedoch mit einer gefährlichen Botschaft verbunden, denn sie suggeriert, dass man die häusliche Zeitfalle mit Quality Time überwinden könne*. Das ist jedoch eine falsche Verheissung und nichts anderes als ein machtvolles und folgenreiches Wortspiel einer Gesellschaft ohne Zeit, dafür mit einem grossen schlechten Gewissen.

Quality Time als Wunschdenken

Sich am Abend und am Wochenende Quality Time-Inseln schaffen zu wollen, ist aus mindestens zwei Gründen ein herausforderndes Wunschdenken:

Die Unplanbarkeit von Intensität: Mit dem Konzept ist die Vorstellung verknüpft, dass alles hochstehend sein muss: die Zeit für die Kinder und mit ihnen, Zweisamkeit und Gespräche mit der Partnerin oder das Zusammensein mit Freunden. Eine relaxte und unverplante Konzentration auf die Familie gilt deshalb nicht als erstrebenswert und gewöhnliche Quantitätszeit schon gar nicht, weil man dann nur passiv, aber nicht von Herzen engagiert ist. Dies ist jedoch ein Fehlschluss, denn man kann nicht einfach so die Zeiten intensiven Zusammenseins einplanen, damit Beziehungen automatisch gut oder fruchtbar werden und Kinder keine Qualitätseinbussen erleiden. Manchmal wollen Kinder auch einfach Quantitätszeit und nicht Qualitätszeit.

Überrissene Vorstellungen und ihr Teufelskreis: Das Quality Time-Konzept beinhaltet ebenso die verdeckte Annahme, Eltern müssten sich lediglich Mühe geben und die Zeit besonders gut nutzen, um auf einfache Art und Weise Qualitätszeit herzustellen. Und wer sich so verhalte, werde zum guten Vater oder zur guten Mutter. Derart überrissene Vorstellungen führen jedoch zu Stress- und Überforderungsgefühlen, die ihrerseits das Ringen um Quality Time noch mehr anheizen. Ein Beispiel hierfür sind Eltern, die den Zeitmangel mit Non-Stop-Aktivitäten am Wochenende ausbügeln wollen. Gelingt ihnen dies nicht, dann ist das schlechte Gewissen da, und der Teufelskreis beginnt von vorne.

Die Gefahr, sich in der Zeitfalle einzurichten

Das Problematischste am Quality Time-Konzept ist, dass es die Vorstellung unterstützt, man könne die Komplexität des Familiensystems reduzieren. Deshalb beginnen viele Paare, sich auf die Qualitätszeit zu konzentrieren und sich gleichzeitig in der Zeitfalle einzurichten, ohne die Bedingungen zu verändern, welche diese hervorruft. Der Paarforscher Guy Bodenmann** sagt deshalb, Veränderungen müssten beim Stress der Paare geschehen. Dieser führe nämlich dazu, dass sie keine Zeit mehr füreinander haben und keine gemeinsamen Erlebnisse. Wenn jeder sein eigenes Leben lebt, leidet das Wir-Gefühl.

Auch wenn es auf den ersten Blick verheissungsvoll ist, bleibt das Quality Time-Konzept eine Lüge!

Weiterführende Literatur

*Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Weshalb entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. München: Piper.

**Bodenmann, G. Bodenmann, G. & Klingler, C. (2013). Stark gegen Stress. Zürich: Beobachter Edition.

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