In Watte gepackt – weshalb eine risikoscheue Kindheit schädlich ist
Verantwortungsvolle Elternschaft wird mit der Pflicht gleichgesetzt, die Kinder dauernd zu überwachen. Dies ist jedoch eine spezifisch deutschsprachige und anglo-amerikanische Idee, denn in vielen anderen Gesellschaften geniessen Kinder weit mehr Freiheiten, sich alleine oder zumindest selbstverantwortlich in der Aussenwelt zu bewegen. Dabei ist unsere Angst um die kindliche Sicherheit auf einem beispiellosen und fast schon schizophrenen Niveau angelangt. Unfälle – ein aufgeschürftes Knie, ein Sturz vom Velo oder vom Dreirad – aber auch vielleicht eine Magenverstimmung, weil etwas nicht ganz Sauberes gegessen worden ist – gelten zunehmend als absolute Gefahren, die unter allen Umständen vermieden werden sollen.
Solche Überzeugungen sind eine grosse Belastung für unsere Kinder, weil sie zur Folge haben, dass sie ihre Selbstständigkeit und Persönlichkeit nicht entwickeln können. Und für die Eltern, weil sie ein Leben in dauernder Aufmerksamkeit führen müssen. Weshalb betrachtet unsere Gesellschaft die Kinder ausschliesslich durch eine Risikobrille?
Paradoxerweise wissen viele Eltern um die Problematik dieser Risikoscheuheit. Ich habe mit einigen Vätern und Müttern gesprochen, die erkennen, dass die Erfahrungen ihrer Kinder nichts mehr mit ihrer eigenen Kindheit zu tun haben und dass heutige Kindheit in vielerlei Beziehung wenig frei ist: Auch in den Medien liest man zunehmend, dass kleine Kinder heute zu sehr in Watte gepackt werden. Tatsächlich ist vor übertriebenem Schutz, unverhältnismässigen Sicherheitsvorkehrungen und überbordender Geborgenheit zu warnen. Jedes Kind hat ein Recht auf eigene blaue Flecken. Nicht jede Gefahr muss aus dem Weg geräumt und jede Ecke abgerundet werden.
Die Erkenntnis, dass Risikoscheuheit schädliche Auswirkungen auf die Qualität des Aufwachsens und die Entwicklung der Kinder hat, ist somit eine wichtige und eine überfällige. Trotzdem trägt unsere Gesellschaft – und oft vor allem auch selbst ernannte Experten – massgeblich dazu bei, ein Klima der Angst zu schüren. Ein Beispiel, das mir eine Mutter erzählt hat, illustriert dies sehr gut.
«Ich war auf dem Heimweg durch einen Park mit meinen beiden Kindern, dem dreijährigen Sohn und der fünfjährigen Tochter. Weil sie unbedingt vorausgehen wollte und ich wusste, dass sie ein vernünftiges Kind ist, liess ich sie. Aber ich sagte ihr, sie solle beim Tor, das in der Nähe der Strasse ist, warten. Bis ich mit meinem Dreijährigen dort war, hatte ich etwa drei Minuten. Wie erwartet, stand meine Tochter neben dem Tor und wartete auf uns. Aber es stand auch eine ganze Anzahl Menschen um sie herum. Ich musste viele kritischen Kommentare anhören, und eine Frau nannte mich gar eine durch und durch verantwortungslose Mutter.»
Obwohl viele Eltern spüren, dass sie ihrem Kind mehr zutrauen sollten, verhindern gerade solche Beispiele, dass sie es auch tatsächlich tun. Dazu kommt eine moralische Panik, die in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Die Angst vor Unfällen, vor Verbrechen oder vor Kindsmissbrauch hat dazu geführt, dass Eltern ihre Kinder nicht allein zur Schule laufen lassen, sondern sie fahren oder sie begleiten. Wir haben in unserer Nähe einen schönen Kinderspielplatz mit vielen Möglichkeiten zum Herumtollen, mit Büschen und Hecken, mit Bäumen und Pflanzen – mit all dem, was Kinder zum Herumtollen brauchen. Das Einzige, was diesem Platz fehlt, sind Kinder. Sogar an schönen Sommertagen ist er oft leer, oder dann kann man Eltern mit ihren Kindern sehen, welche sie genau überwachen.
Die Besessenheit unserer Gesellschaft um die Sicherheit der Kinder ist wahrscheinlich schädlicher als es die Risiken sind, denen sie täglich ausgesetzt sind. Kinder können sich von Unfällen schnell erholen. Und sie können sehr gut auch Misserfolge überwinden und Fehler ertragen – wenn sie in einer liebevollen und wertschätzenden Umgebung aufwachsen. Wenn Eltern allerdings ihre Kinder in ihrer Risikoscheuheit ersticken und ihren Erkundungs- und Freiheitsradius einengen, dann machen sie ihre Kinder glauben, dass Gefahren den natürlichen Status des Aufwachsens darstellen.
Das Kind in bestimmten Momenten loslassen zu können ist immer schwierig für Eltern. Aber die Befreiung des Kindes von der elterlichen Risikobesessenheit ist zentral für seine gute Entwicklung.
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Kommentare 1
Guten Abend
Auch ich, eine zweifache Mutter, bin der Überzeugung, dass überbeschützende Helikoptereltern ihren in Watte gepackten Kindern einen Bärendienst erweisen und sie in der normalen, gesunden Entwicklung hemmen und bremsen. Schützen ist ok, Überbeschützen jedoch nicht! Wir dürfen und können unsere Kinder nicht überall und andauernd vor sämtlichen Gefahren und Unannehmlichkeiten bewahren und ihnen alle Hürden und Steine aus dem Wege räumen, Aufgaben und Verantwortung abnehmen. Sie müssen Gefahren kennen, um davor Respekt zu haben. Sie müssen auf die "Schnauze" fallen, um wieder aufstehen zu können. Stürze, aufgeschlagene, blutende Knies, blaue Flecken und Beulen gehören zu einem "normalen" Kinderleben dazu genau wie Siege und Niederlagen, Misserfolge und Erfolge. Nur so lernen sie, sich im Leben, in der Gruppe und in der Gesellschaft zu behaupten und zu bestehen. Einige dieser überbehüteten und kontrollierten Kinder/Jugendlichen werden jedoch "verweichlicht", unsicher, ängstlich und unselbstständig und werden sich noch mit 30 im "Hotel Mama" (h)aushalten lassen... Daher ist es wichtig, die Kinder langsam aber sicher loszulassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich entfalten und entwickeln zu können. Nur so wachsen sie zu mutigen, starken, selbstbewussten, anständigen und respektvollen Mitmenschen heran!
Freundliche Grüsse
Andrea Mordasini, Bern