Die neue Epidemie der Talente
In der Schweiz gibt es viele Leuchttürme guter Talentförderung. Ein Beispiel sind die Schweizer Berufsmeisterschaften Swiss Skills, die erstmals 2014 stattgefunden haben. Derartige Talentförderung entspricht genau dem, was der Begriff auch meint: Junge Menschen sind dann Talente, wenn sie in einem bestimmten Bereich über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügen und sie dieses mit gezielter Unterstützung von Lehrkräften und Berufsbildnern so ausbauen können, dass es zu Expertise auf höchstem Niveau wird.
Leider hat sich in den letzten Jahren unbemerkt eine «Talent-Epidemie» ausgebreitet. Davon zeugen all die Plakate, auf denen mit jungen Menschen geworben wird: «Wir brauchen Ihr Talent – machen Sie Ihre Ausbildung bei uns!» oder «Absolviere ein Talentjahr, wenn du nicht weisst, ob du eher ins Gymnasium oder eine Berufslehre absolvieren willst!» Eigentlich tönt dies gut. Endlich weg von der Defizitperspektive hin zu dem, was junge Menschen können! Auf einen solchen Perspektivenwechsel haben wir lange gewartet. Trotzdem freue ich mich darüber nur eingeschränkt.
Viele Hochglanzbroschüren lassen nämlich erheblichen Zweifel aufkommen. Zwar verwenden sie den Begriff Talent fast auf jeder zweiten Zeile, ob die Förderung von Talenten in der Praxis auch umgesetzt wird, bleibt aber fraglich. Auch unsere Forschungsstudien zu leistungsstarken Jugendlichen in der Berufsbildung verweisen auf eine andere Realität. Wie oft schmückt man sich vordergründig mit Talentförderung, jammert aber im praktischen Alltag über die mangelnde «Ausbildungsreife» Jugendlicher und über all das, was sie nicht mehr können. Slogans zur Talentförderung sind deshalb nicht selten lediglich ein geschicktes Vertuschen des defizitären Menschenbilds und somit ein Etikettenschwindel.
Die Ausbildungsqualität darf nicht manipuliert werden. Deshalb ist es wünschenswert, den inflationären Gebrauch des Begriffs «Talent» zu unterbinden und nur dort zu verwenden, wo die Potenziale junger Menschen tatsächlich gefördert werden. Dies ist jedoch einfacher gesagt als getan. Denn dafür braucht es Lehrkräfte und Berufsbildner, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als Talentförderer verstehen. Will nämlich eine Berufsbildnerin das verborgene goldene Händchen eines jungen Migranten oder ein Kantilehrer das intellektuelle Potenzial einer unbequemen Schülerin nicht sehen, dann bleiben Begabungen und Ressourcen unentdeckt und ungenutzt – auch wenn in Leitbildern und Unternehmensrichtlinien Gegenteiliges steht. Haltungen sind deshalb von grundlegender Bedeutung. Nur wer Potenziale bei allen jungen Menschen erwartet, sie erkennen und anerkennen und unterstützen will, betreibt Talentförderung. Und wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren, dass die jungen Talente im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies alles genügt nicht. Talentförderung muss auch Chefsache sein und als grundlegende Ausbildungsaufgabe verstanden werden. Schul- und Geschäftsleitungen, welche ihre Lehrkräfte und Berufsbildner unterstützen, sind deshalb das Herzstück aller Anstrengungen.
Nur, woran erkennt man, ob Schulen und Betriebe Talentförderung ernst nehmen? Erstens, inwiefern Programme zur Potenzialförderung existieren, und zwar für alle, also unabhängig von der sozialen oder kulturellen Herkunft und vom Geschlecht. Zweitens, ob sie stolz sind, junge Menschen auszubilden und auch an sie glauben und drittens, ob sie selbst von ihrer Arbeit mit jungen Menschen beflügelt sind. So einfach ist das.
Die Talent-Epidemie darf uns nicht Glauben machen, dass junge Menschen tatsächlich talentierter als früher sind. «Talent», so wie der Begriff heute gebraucht wird, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Worthülse, eine PR-Massnahme im «Kampf um die Talente», d.h. um rar gewordene Lehrlinge oder, um teure Ausbildungen beliebt zu machen. Nicht selten ist das Gerede um Talente oberflächlich, weshalb es der Sache eher schadet als nützt. Eine Rückbesinnung auf das, was Talent meint und wann der Begriff verwendet werden soll, tut Not.
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