Kommen Schlaue in der Schule zu kurz?
erschienen in Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 31.10.2022, 2.
Logopädie, Psychomotorik, Dyskalkulie, Ergotherapie oder Verhaltensauffälligkeiten wie Schrei- und Beissattacken oder Arbeitsverweigerung: Geht es um Probleme von Schülerinnen und Schülern, könnte diese Liste beliebig erweitert werden. Abklärungen sind an der Tagesordnung. Deshalb erstaunt es kaum, dass in einer Primarschule auf eine Klasse mit 24 Kindern durchschnittlich 19 therapeutische Fördermassnahmen fallen, wobei einzelne Kinder von mehreren Massnahmen betroffen sein können. Natürlich kann es für ein Kind und seine Eltern ein Segen sein, wenn aufgrund von Abklärungen eine Diagnose gestellt wird und es gezielt mit Fördermassnahmen und Therapien unterstützt werden kann.
Die Achillesferse: Defizitorientierung
Doch, wo bleibt der Blick, auf das, was Kinder können? In unseren Schulen hat die Defizitbehebung derart umfassend Einzug gehalten, dass die Suche nach Stärken und Potenzialen weitgehend auf der Strecke bleibt. Das ist eine bedeutsame Achillesferse des Bildungssystems. Vor zwanzig Jahren war das anders. Damals hat das Netzwerk Begabungsförderung landauf landab innovative Projekte zur Förderung begabter, interessierter und unterforderter Kinder entstehen lassen, die auch im internationalen Vergleich bemerkenswert waren.
Die Sparwut hat in vielen Kantonen zur Streichung mancher Programme geführt. Zum Glück gibt es immer noch Leuchttürme – Weiterbildungen an PHs, Fachgruppen, Schulen – die das Augenmerk auf die Frage legen, was man schlauen und besonders leistungsstarken Schulkindern zumuten und wie sich kaschierte oder von negativem Verhalten verdeckte Begabungen erkennen lassen. Und es gibt immer wieder Lehrkräfte an Schulen, die mit Enthusiasmus wertvolle Förderprogramme ins Leben gerufen haben, oft allerdings ohne (ausreichend) finanzielle Unterstützung.
Begabungsförderung als demokratisches Grundrecht - auch für Arbeiterkinder
Begabungsförderung ist ein zutiefst demokratisches Grundrecht, das aktuell nicht mehr ausreichend in den Schulen umgesetzt wird. Zwar ist es lobenswert, schwache und schwierige Schulkinder zu fördern oder zu therapieren. Aber solche Bemühungen drohen aus dem Ruder zu laufen und verhindern den Fokus auf Schlaue oder solche, die es sein könnten.
Damit einher geht eine andere Schieflage. Kinder aus gut situierten Haushalten haben eine mehr als zweieinhalb Mal so grosse Chance, per Notendurchschnitt eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten als solche aus einfach gestellten Familien – wohlverstanden, bei gleichen kognitiven Fähigkeiten. Noch immer entscheidet nicht in erster Linie der Grips, wer es ins Gymnasium schafft, sondern vor allem die soziale Herkunft. Manchmal sind es aber auch skeptische Eltern. Weil sie das Gymnasium nicht aus eigener Erfahrung kennen, befürchten sie, das Kind könnte sich dort zu sehr den «Gstudierten» zuwenden und nicht mehr lernen «was arbeiten heisst». Für manche dieser Familien ist die Verwertbarkeit der Ausbildung zentral. Darum soll der Nachwuchs schnell eigenes Geld verdienen und deshalb eine Berufslehre absolvieren – auch wenn er intellektuell längst fürs Gymnasium prädestiniert wäre.
Eine chancengerechtere Förderung beginnt mit der Haltung
Erfreulicherweise hat der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) unlängst mit seinem Positionspapier darauf aufmerksam gemacht, dass die Defizitperspektive eine Korrektur um den Blick auf das Begabungspotenzial braucht. Zu ergänzen ist lediglich, dass die Forderung nach mehr Begabungsförderung nicht genügt. Eine Demokratie braucht eine Begabungsförderung, die auch chancengerecht ist und das Potenzial aller Kinder unabhängig ihrer sozialen Herkunft in den Blick nimmt.
Übrigens: Der erste Schritt zu einer chancengerechteren Förderung von schlauen Kindern ist gratis, braucht wenig Zeit und keine Ressourcen. Es ist die Haltung, bei allen Kindern Potenziale zu erwarten und diese entfalten zu wollen, ob man nun an einer Brennpunktschule unterrichtet oder in einem Akademikerquartier.
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