Die Pensionierung ersehnen?

Kürzlich war ich Gast in der Sommerserie von Radio DRS „20 Köpfe – 20 Ideen“. Gewünscht war gewesen, dass ich eine Vision für die Schweiz der Zukunft formulieren solle. Ich habe „Talente im Alter“ gewählt, weshalb? Erstens, weil ich bisher alle Lebensphasen – von der Wiege bis zum Erwachsenenalter  – erforscht habe, Talententwicklung im Alter aber eine wissenschaftliche Black Box ist: Sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum gibt es nicht mehr als eine Handvoll Studien hierzu. Zweitens, weil ich die Entwicklung im Alter als notwendiges Pendant zur frühkindlichen Bildung betrachte und diese auch einer meiner Forschungsschwerpunkte darstellt. Und natürlich drittens, weil ich mit Jahrgang 1950 selbst im Prozess des Alterns stecke und meine, langsam erahnen zu können, welche Herausforderungen ein gutes / erfolgreiches / sinnvolles / befriedigendes / erfülltes Altern mit sich bringt, will man nicht lediglich die traditionellen Pfade wie etwa die Erhaltung und Verteidigung einer beruflichen Spitzenposition, ausgedehnte Reisen oder sportliche Gewaltstrainings beschreiten.

In meinem Radiobeitrag habe ich ein Bild des Alter(ns) gezeichnet, das die Entfaltung von Potenzial und Talenten in den Mittelpunkt stellt. Und zwar auf der Basis eines Verständnisses von Entwicklung, das die ganze Lebensspanne umfasst, eben: von der „Wiege bis zur Bahre“ und immer von Verlust und Wachstum, von Abbau und Gewinn gekennzeichnet ist.

Nach diesem Beitrag habe ich sehr, sehr viel Rückmeldungen bekommen: per Mail, per Brief, per Telefon. Das hat mich zwar nicht besonders erstaunt, denn meine bisherigen Referate zu dieser Thematik haben immer Interesse und eine grosse Zuhörerschaft gefunden. Was mich aber besonders nachdenklich gestimmt hat, war vor allem eine Bemerkung: dass nämlich viele Menschen die Pensionierung geradezu ersehnen würden. Wenn es dann endlich so weit sei, dann seien diese Menschen vom Berufsleben so ausgelaugt, dass sie ihre Talente gar nicht mehr entwickeln könnten.

Ich gestehe, dass ich mir zu diesem Aspekt bisher noch wenig Gedanken gemacht habe. deshalb habe ich nach entsprechenden Forschungserkenntnissen gesucht, aber kaum welche gefunden. Wieviele Menschen somit tatsächlich die Pensionierung ersehnen und die Tage zählen, bis es so weit ist, wissen wir nicht. Genauso wenig ist zur anderen Seite der Medaille bekannt: Wieviele Menschen gar nicht pensioniert werden, sondern länger arbeiten möchten.

Eines scheint mir aber sicher – auch wenn empirische Erkenntnisse fehlen: Betriebe müssen weit stärker als bis anhin Talentmanagement betreiben und zwar ein solches, das nicht mit ‚Seniorisierung’ verbunden ist, sondern mit der Entwicklung von Expertise. Wahrscheinlich lohnt sich dies auch finanziell, man denke nur einmal daran, wie viele Ressourcen durch das Ausharren am Arbeitsplatz, durch Burnout und Krankschreibungen verloren gehen dürften. Menschen um die 50+ müssen neue, andere und vertiefende Möglichkeiten bekommen, sich beruflich weiterzuentwickeln und sich auch umorientieren zu können. Wenn aus der Forschung bekannt ist, dass beispielsweise Sachwissen und Denkstrategien, Sozialkompetenz, Konfliktfähigkeit oder Fürsorge auch nach der Mitte des Lebens noch enorm entwickelt werden können – dann erscheint es geradezu sträflich, wenn Betriebe dieses Potenzial brach liegen lassen.

Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass dies leichter gesagt als getan ist. Denn unserer Gesellschaft mangelt es immer noch an etwas Fundamentalem: dass der Jugendwahn zu sehr als begehrenswerter Normalzustand gilt.

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