Der Ruhestand ist kein Winterschlaf
erschienen in: Aargauer Zeitung /Die Nordwestschweiz, 18.09.2017, 14.
Die Überalterung unserer Gesellschaft ist eine Tatsache. Unwörter wie Rentnerschwemme, Gruftis oder Altersheim Schweiz verweisen auf das schwierige Umfeld, in dem Altern heute stattfindet. Die Altersdebatte ist eine Angstdebatte, welche die Diskussion nahezu vollständig beherrscht. Dadurch ignoriert sie die mit dem Altern verbundenen Chancen.
Altern als Provokation
Um nicht falsch verstanden zu werden: Altern ist relevant! In einer Gesellschaft im Jugendwahn ist die Angst vor dem Altwerden ein Normalzustand. Altern ist eine Provokation, der sich niemand entziehen kann, auch nicht, wenn man das Altern negiert. Genau deshalb braucht die Alters-Debatte eine neue Perspektive, die sich beispielsweise an den Erkenntnissen der Lebenspannenpsychologie orientiert: Entwicklung findet von der Wiege bis zur Bahre statt, also während des ganzen Lebens, und sie ist immer in eine Dynamik zwischen Aufbau und Abbau, zwischen Wachstum und Verlust eingebettet.
Beispiele hierfür finden wir genug. Der ehemalige Lehrer, der sich nun um minderjährige Flüchtlinge kümmert oder die pensionierte Buchalterin, welche sich einen Lebenstraum erfüllt und ein kleines Antiquariatsgeschäft eröffnet. Gemeinsam ist solchen Menschen, dass sie zwar alt an Jahren sind, im Geist aber aufblühen, weil sie nach der Pension eine Passion entdeckt haben, mit der sie etwas Bedeutsames gestalten und neu beflügelt werden.
Es gibt keinen generellen Abbau im Alter
Doch solche Menschen strapazieren unsere stereotypen Vorstellungen: Ist diese Entwicklung überhaupt wünschbar? Haben Menschen nach einem langen Arbeitsleben nicht Ruhe und Beschaulichkeit verdient? Man kann hierzu natürlich unterschiedlicher Meinung sein, doch die Forschung zeigt eindeutiges: Die Entfaltung von Fähigkeiten im Alter meint nicht unbedingt ausgedehnte Reisen oder sportliche Gewaltstrainings, sondern eine mit Faszination verbundene Realisierung von Talenten, die während langer Zeit blockiert waren oder nicht entwickelt werden konnten.
Die dominante Defizitthese, die von einem generellen Abbau im Alter ausgeht, ist falsch. Auch im späteren Leben lassen sich bestimmte Fähigkeiten innovativ weiterentwickeln und neue Möglichkeiten entdecken. So wissen wir, dass das Lern- und Wissenspotenzial Älterer deutlich grösser ist als gemeinhin angenommen. Die moderne Intelligenzforschung weist nach, dass interessenbezogene Expertise bis ins hohe Alter erhalten und durch Übung sogar gesteigert werden kann. Wer ein Leben lang Spezialwissen oder -können in bestimmten Bereichen erworben hat und dieses besonders pflegt, kann nicht nur bis ins Alter Höchstleistungen erbringen, sondern ist auch weniger von Gedächtnisverlusten betroffen. Leider spielt auch der Abbau von Fähigkeiten eine Rolle. Eindrücklich nachgewiesen ist die altersbedingte Begrenzung der Memorierungsfähigkeit oder des mit grossem Aufwand verbundenen Lernens von Neuem und Komplexem.
Das Gehirn braucht eine Vielfalt an Stimulation
Wenn somit kognitive Herausforderungen im Alter so wichtig sind, dann kann die Lebensphase der Pensionierung auch eher schädlich sein. Diese Aussage ist provokant, jedoch forschungsbasiert. Um mental und körperlich einigermassen fit zu bleiben, braucht das Gehirn eine Vielfalt an Stimulation. So verstanden ist der Ruhestand eine Art Winterschlaf, weil Inaktivität das Gehirn schädigt. Talente zu entwickeln und Expertise zu pflegen ist deshalb eine Anpassungsstrategie für ein «erfolgreiches» Altern.
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