Weshalb eine Abschaffung der Gymiprüfung keine Chancengerechtigkeit bewirkt

Aktuell ist die Abschaffung der Gymiprüfungen im Kanton Zürich in aller Leute Munde. Das Hauptargument der Befürworter, die im Kantonsrat eine parlamentarische Initiative eingereicht haben, ist das der verzerrten Zugangschancen und der Benachteiligung von Kindern aus weniger gebildeten und armen Familien. Das Hauptargument der Gegner betrifft die Angst vor Hunderten von zusätzlichen Schülern, welche die Gymnasien gar nicht verkraften könnten.

Wer hat aus wissenschaftlicher Sicht ‚Recht‘? Zunächst einmal: eher die Befürworter! Für ihre Argumente spricht die Tatsache, dass der Zugang zum Gymnasium, so wie er heute im Kanton Zürich – und in verschiedenen anderen Kantonen – gestaltet ist, erkauft werden kann. Es gibt eine riesige parallelschulische Lernindustrie mit Nachhilfestunden, Lernstudios, Wochenende-Workshops etc. Das alles kostet viel Geld, weshalb Kinder aus weniger begüterten Familien ganz klar benachteiligt sind.

Zweitens können die Befürworter damit punkten, dass auch aus wissenschaftlicher Sicht zahlreiche Argumente dafür sprechen, dass der Zugang zu den Gymnasien nicht mehr allein auf Noten abgestützt werden sollte. Noten sind in einem hohen Mass unpräzis und allein auf sie aufbauende Aufnahmeverfahren kaum mehr zeitgemäss. Deshalb sollten neue Selektionskriterien gefunden werden, welche auch Entwicklungsmöglichkeiten und Lernverhalten des Kindes unter die Lupe nehmen.

Die Gegner argumentieren vor allem damit, dass eine Abschaffung der Gymiprüfung zur Folge hätte, dass die Gymnasien Schüler aufnehmen müssten, die nur fraglich für eine akademische Ausbildung prädestiniert wären. Dieses Argument ist falsch, weil es bereits jetzt zutrifft: Ein nicht kleiner Anteil derjenigen, die den Sprung ins Gymnasium über die Aufnahmeprüfung schaffen, ist lediglich besonders fleissig und durch das Elternhaus gefördert, verfügt jedoch nur am Rande über die traditionell für das Gymnasium erforderlichen ‚kognitiv überdurchschnittlichen’ Fähigkeiten. Das zweite Argument der Gegner ist hingegen stichhaltiger: dass die Gymiprüfung im Kanton Zürich ein gerechtes Verfahren sei. Tatsächlich hat die wissenschaftliche Überprüfung durch Urs Moser von der Universität Zürich ergeben, dass es die ‚Richtigen‘ ans Gymnasium schaffen, d.h., wer im Intelligenztest (den Moser et al. durchgeführt haben) gut abschneidet, schafft auch die Prüfung ans Gymnasium.

Soweit so gut. Was sowohl Befürworter als auch Gegner offenbar nicht bedacht haben, ist die empirische Tatsache, dass sich Chancengerechtigkeit nicht durch die Abschaffung der Gymiprüfung ‚herstellen‘ lässt. Gut belegt ist nämlich, dass Kinder mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Sozialschichten eine vielfach geringere Chance haben, den Sprung ins Gymnasium zu schaffen als Kinder aus privilegierteren Sozialschichten. Somit kommen zwar die ‚Richtigen‘ ins Gymnasium, doch bleiben viele, welche genauso viel oder mehr Potenzial hätten und auch zu den ‚Richtigen‘ zu zählen wären, auf der Strecke – und dies ab Schuleintritt. Bereits hier werden nämlich die Weichen gestellt. Das Hauptproblem ist die Annahme vieler Lehrkräfte, Schüler mit Migrationshintergrund und solche aus sozial schwachen Familien seien sowieso «bildungsfern» und deshalb weniger intelligent als Kinder aus gutsituierten Familien. Deshalb sucht man bei ihnen gar nicht nach versteckten Begabungen und fördert sie auch nicht so, dass diese sichtbar werden könnten.

Fazit

Will man mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zum Gymnasium, so ist nicht die Abschaffung der Prüfung der richtige Weg. Vielmehr müsste man benachteiligten Kindern früh schon helfen, die ihnen in den Weg gestellten Hürden zu überwinden. Lehrkräfte müssten lernen, wie man ihre Potenziale erkennt, wie man diese zur Entfaltung bringt und wie man ihre Familien überzeugt, ihr Kind auf das Gymnasium schicken zu wollen. Dies alles bedingt aber vor allem Eines: eine Änderung von Haltungen und Vorurteilen, und eine solche ist nicht mit der Abschaffung der Gymiprüfung zu erreichen.

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