Für ewig jung?

Die "Überalterung" ist eine Tatsache, welche uns enorm beschäftigt. Unwörter wie Rentnerschwemme, Grufties oder Altersheim Schweiz verweisen auf das schwierige Umfeld, in dem Altern heute stattfindet. Die Altersdebatte ist nach wie vor weitgehend eine Angstdebatte, auch wenn mediale Berichte von den jungen Alten anderes verheissen. Es erstaunt deshalb kaum, dass dieser Negativblick die Diskussion über das Altern beherrscht und die mit ihm verbundenen Chancen nahezu vollständig ignoriert. Das zeigt sich übrigens auch in vielen Altersleitbildern, die oft stark in dem verwurzelt bleiben, was ältere Menschen brauchen und viel zu wenig das fokussieren, was sie können oder in welchen Bereichen wir sie brauchen. würden.

Ich möchte ein anderes Bild des Alter(n)s zeichnen, eines, das die Entfaltung von Potenzial und Talenten in den Mittelpunkt stellt. Ich beziehe mich dabei auf unsere Längsschnittstudie "Talent Scout 60+", die wir in diesem Jahr abgeschlossen haben. Sie verdeutlicht, dass Entwicklung die ganze Lebensspanne umfasst von der Wiege bis zur Bahre und immer in eine Dynamik zwischen Verlust und Wachstum eingebettet ist. Ich erläutere nachfolgend unsere Hauptergebnisse, indem ich sechs Aussagen von prominenten Personen als Thesen zur Diskussion stelle.

Joan Collins, Schauspielerin aus der Serie Dallas: «Das Alter ist irrelevant, es sei denn, du bist eine Flasche Wein.»

Ich denke, dass diese These falsch ist. Alter ist relevant. Die Angst vor dem Altwerden in einer Gesellschaft im Jugendwahn ist ein Normalzustand. Altern ist eine Provokation, der sich niemand entziehen kann, auch nicht dann, wenn man das Altern als irrelevant bezeichnet. Es gibt mindestens vier Bewältigungsmuster: Die einen versuchen Dank Anti-Aging-Massnahmen körperlich und ästhetisch fit zu bleiben und auf diese Weise ‚erfolgreich’ zu altern. Andere setzen eher einen spirituellen Schwerpunkt und akzeptieren das Altern als unausweichliche Herausforderung, sich auf den Tod einzustellen. Wieder andere resignieren, weil sie überzeugt sind, dass Altwerden mit nutzlos werden gleichzusetzen ist. Es gibt auch eine vierte Gruppe: Sie entwickelt ihre Talente so, wie dies Martha im Film «Die Herbstzeitlosen» tut. Obwohl sie nach dem Tod ihres Mannes die Lebenslust verloren hatte, wagte sie einen Neubeginn und erfüllte sich mit einer Lingerie-Boutique einen Lebenstraum.

Gotthold Ephraim Lessing: «Welche Freude wenn es heisst: Alter, du bist alt an Jahren, blühend aber ist dein Geist.»

Diese Aussage hat etwas auf sich. Spätentwickler blühen häufig richtig auf, wenn sie einen Bereich entdecken, zu dem sie etwas Bedeutsames beitragen können. Gleichzeitig fordern sie unsere stereotypen Vorstellungen heraus: Ist eine solche Entwicklung überhaupt wünschbar? Haben ältere Menschen nach einem langen Arbeitsleben nicht Ruhe und Beschaulichkeit verdient? Nun, die Entfaltung von Fähigkeiten im Alter meint weniger ausgedehnte Reisen oder sportliche Gewaltstrainings. Sie meint vielmehr die intensive, mit Faszination verbundene Realisierung von Fähigkeiten, die während langer Zeit aus irgendwelchen Gründen blockiert waren.

Immanuel Kant, Philosoph: «Im Alter nimmt die Urteilskraft zu und Genie ab.»

Auch wenn sie von Kant ist, lässt sich dieser These nicht vorbehaltlos zustimmen, man muss sie weiter differenzieren. Sicher ist, dass die dominante Defizitthese, die von einem generellen Abbau im Alter ausgeht, nicht mehr tragbar ist. Es können auch in diesem Lebensabschnitt noch innovative Intelligenzformen auftreten, die Entwicklungsmöglichkeiten – und damit Genie - zulassen.

Dies gilt vor allem für die Pragmatik der Intelligenz, vergleichbar mit der Software des PC. Dazu gehören Sprachverständnis, Sachwissen und Denkstrategien. Wer ein Leben lang Spezialwissen in bestimmten Bereichen erworben hat und diese besonders pflegt und weiterentwickelt, kann nicht nur bis ins Alter Höchstleistungen erbringen, sondern ist auch weniger von Gedächtnisverlusten betroffen.

Vom Abbau betroffen ist jedoch die Mechanik der Intelligenz, was in etwa der Hardware beim PC entspricht. Eindrücklich nachgewiesen ist die altersbedingte Begrenzung der Memorierungsfähigkeit oder des Lernens von Neuem und Komplexem.

Ingmar Bergmann, Regisseur: «Mit dem Alt-werden ist es wie mit dem Auf-einen-Baum-steigen: Je höher man steigt, desto mehr schwinden die Kräfte, aber desto weiter sieht man.»

Ich würde diese These zwar unterstützten, aber noch genauer formulieren. Denn das Talent – weiter sehen zu können – entsteht nicht einfach dadurch, dass man auf die Zähne beisst und sich bemüht, nach oben zu kommen. Vielmehr muss der alternde Mensch lernen, Elemente des des Verlusts zu akzeptieren und gewinnbringend in seine Talententwicklung zu integrieren. Das zeigt das so genannte SOK-Prinzip der selektiven Optimierung mit Kompensation von Paul Baltes. Es besagt, dass der Mensch diejenige Möglichkeit auswählt, die er verwirklichen will, sie optimiert, um sein Talent zur Geltung zu bringen und die fehlenden Eigenschaften oder Handlungsmöglichkeiten kompensiert. Der berühmte Pianist Arthur Rubinstein ist ein hervorragendes Beispiel hierfür. Auf die Frage, weshalb er mit 80 Jahren noch ein so guter Pianist sein könne, antwortete er: weil er sein Repertoire verringert habe (Selektion), diese Stücke mehr als früher übe (Optimierung) und – weil er die ausgewählten Stücke nicht mehr so schnell wie früher spielen könne – verlangsame er vor besonders schnellen Passagen sein Tempo, so dass sie dann wieder ausreichend schnell erscheinen würden (Kompensation).

Paul Baltes, Forscher: «Erfolgreiches Altern ist unsere wichtigste Zukunftsressource.»

Aus dem bisher Gesagten kann diese Aussage nur unterstrichen werden. Alte Menschen werden bald als die Generation der Zukunft gelten. Derzeit ist ein Fünftel der Bevölkerung über 60 Jahre alt, bis 2030 werden es gut ein Drittel sein. Die enorm gestiegene Lebenserwartung ist eine grosse Herausforderung mit weitreichenden Konsequenzen, vor allem dann, wenn sich immer mehr Menschen immer früher pensionieren lassen. Wenn jedoch die Forschung nachweist, wie wichtig die kognitive Herausforderung im Alter ist, dann kann Pensionierung auch geradezu schädlich sein. Denn um fit zu bleiben, braucht das Gehirn eine Vielfalt an Stimulation. Ruhestand ist so verstanden eine Art Winterschlaf, weil Inaktivität das Gehirn schädigt. Talente zu entwickeln und Expertise zu pflegen ist deshalb eine Anpassungsstrategie für ein erfolgreiches Altern.

Rolf Dörig, Präsident Swiss Life: «Wir werden bis 70 und länger arbeiten müssen.»

An dieser Aussage scheiden sich die Geister. Dies hat sich daran gezeigt, wie sehr die Boulevardblätter ob dieser Aussage aufgejault haben. Dabei haben viele Ältere inzwischen andere Probleme: Ohne seniorisiert und frustriert zu werden, möchten sie länger oder vor allem anderes arbeiten, dürfen aber nicht.

Talent und Expertise im Alter werden aber auch aus anderen Gründen möglicherweise die heisse Frage der Zukunft werden: Stichwort „Fachkräftesicherung“. Angesichts des enormen Mangels an Fachkräften – man erwartet bereits in den nächsten Jahren, dass jede zweite Stelle nur schwer besetzt werden kann. Nur: Die wichtigste Einsicht zum Alter, die von der Politik seit Jahren überhört wird, ist nicht die: länger arbeiten! sondern: zur Kenntnis nehmen, dass das Lebensalter ein ganz schlechter Indikator für die Leistungsfähigkeit ist. Von einem pauschalen Pensionierungsalter ist deshalb wenig zu halten. Vielmehr ist die Frage der Arbeitskraft und des Potenzials stärker vom Alter zu trennen. Wir sollten uns deshalb Gedanken machen, wie Kapazitäten Älterer einzusetzen sind, damit sie Schwerpunkte ihrer Tätigkeit vertiefen oder verändern oder sich anders orientieren können – auch dann, wenn die Mechanik von Körper und Geist anfälliger wird. Ein so verstandenes Lebenslanges Lernen setzt auf die Entwicklung und Entfaltung von Potenzialen und Talenten Älterer und damit auch auf eine Neuorientierung von Qualifikationsprofilen.

 * http://bit.ly/1YBQIrl

* http://bit.ly/1TlCsjE

 

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