Tanz dich frei» – oder: «Tanz dich in die Empörung …?
Viele haben sich in den Medien schon geäussert zum Strassenfest «Tanz dich frei» in Bern vom Samstag, den 2. Juni 2012. Viele haben auch Bilanz gezogen. Während sich die Befürworterseite zufrieden gegeben hat, kritisierten Gegner neben der Durchführungsart – das Fest war unbewilligt gewesen – vor allem die Folgen der Abfallberge oder der Sprayereien. Daneben sind ein paar grundsätzliche Fragen aufgeworfen worden, etwa, wie man mit den Forderungen der Jugend nach mehr Freiraum umgehen sollte. Bilanzierend hält die Mehrheit fest, dass es sich hoffentlich um eine einmalige Sache handle, man aber auf dieses Zeichen jetzt reagieren sollte.
Insgesamt hat sich gezeigt, dass die ältere Generation «Tanz dich frei»-Aktionen eher ablehnt. Befürchtet wird denn auch, die Idee könnte zum Anfang neuer Jugendunruhen werden. Vielleicht war deshalb auffallend häufig die Rede davon, dass es sich um ein déja-vu handle, im Sinne von: «Das haben wir, als wir jung waren, auch so gemacht.» Dies scheint mir allerdings zu einfach gedacht, denn die Gründe, die hinter solchen Aktionen stecken, sind sehr oft unklar, für uns Ältere sowieso. Die Welt ist zu komplex, als dass wir erklären könnten, was denn genau für die Jugendlichen unerträglich ist. Meines Erachtens ist in der ganzen Diskussion bisher wenig herausgekommen.
Für mich ist «Tanz dich frei» eine wichtige Angelegenheit. Aber ausschliesslich in Bezug auf die Idee, nicht in Bezug auf die rechtlichen Bedingungen und die finanziellen Folgen. Denn «Tanz dich frei» zeigt, dass sich die Jugend noch empören kann. Unsere Demokratie lebt davon. In diesem Sinn ist Empörung kostbar. Erst, wenn man sich empört, wird man aktiv und engagiert. ‚Ohne-Mich‘-Typen sind das Schlimmste, was unserer Gesellschaft widerfahren kann, die Fähigkeit zur Empörung ist jedoch konstitutiv für unsere Demokratie.
Nur, wofür lohnt sich Empörung? Tatsächlich für «Tanz dich frei»? Gibt es nicht viele andere Themen, für die sich Empörung lohnen würde? Beispielsweise für junge Migrantinnen und Migranten, die wegen ihrem Namen oder ihrem Pass nach wie vor gegenüber den Schweizer Jugendlichen enorm benachteiligt sind? Für ältere Menschen, d.h. für 50+, die immer mehr Schwierigkeiten haben, eine ihnen angemessene berufliche Tätigkeit zu behalten oder zu finden? Oder ganz allgemein für mehr Bildung und weniger Kampfjets? Man könnte auch ins kriselnde Ausland schauen und sich darüber empören, dass junge Griechen oder Spanier, als verlorene Generation bezeichnet, verzweifelt um eine Ausbildung und einen Verdienst kämpfen.
«Tanz dich frei» -Sympathisanten und -Anhängern, aber auch -Gegnern, sei empfohlen, das kleine Büchlein von Stéphane Hessel «Empört Euch!» zu lesen. Es ist zwar kein Meisterwerk für eine dichte Argumentation, wohl aber für gelingende Bekenntnisse. Und es ist ein Werk, das berührt. Hessel ist 93 Jahre alt, und er ist immer noch beseelt von unverwüstlichem Zutrauen in die Möglichkeiten der Entwicklung von Empörung. In seiner hoffnungsvollen Botschaft liegen vielleicht auch Ideen für «Tanz dich frei».
Im Büchlein von Stéphane Hessel steht dieser Angelus Novus von Paul Klee (1920) als Einleitung. Auf ihn hat sich Walter Benjamin (1940) bezogen, als er diesen Engel in Abwehrhaltung gegenüber einem Sturm diskutierte und den Sturm selbst als gesellschaftlichen Fortschritt bezeichnete.
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