Mach schon, wir haben keine Zeit!
erschienen in: Aargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz, 10.04.2017, 16.
Die knappe Zeit bedroht unser Wohlbefinden. Also muss man sie managen und in sie investieren. Dies alles ginge ja noch, wenn sie nur das Berufsleben, aber nicht auch die Familie betreffen würde. Doch permanente Erreichbarkeit, Homeoffice und Telearbeit lassen die beiden Lebenssysteme immer mehr miteinander verschmelzen. Das Zuhause ist nicht mehr ein Ort des Abschaltens, sondern zunehmend ein zweiter Arbeitsplatz, währendem die Firma zum neuen Daheim wird, wo die Arbeit wartet.
Das Hilfsmittel Multitasking
Viele Männer berichteten in unserer Väterstudie, dass sie sich erst zu Hause so richtig unter Druck fühlen. Es braucht einen Zeitblock für den Nachwuchs, einen für die Partnerin und wenns geht, noch einen für den Verein oder die Kollegen. Deshalb versuchen Paare, die kostbaren Überreste der Familienzeit bis ins Letzte zu organisieren und zu schützen. Dies erfordert besondere Disziplin, viel Energie und Konzentration – genau wie die Berufsarbeit. Ein Hilfsmittel ist das Multitasking, mit dem inzwischen nicht nur Frauen, sondern auch Männer Erfahrung haben. Sie planen voraus, delegieren und packen Aktivitäten immer dichter hintereinander und nebeneinander: das rasche Abendessen, die Gutenachtgeschichte für die Kleinen und dann noch ein schnelles Telefonat. Mehr als die Hälfte der Väter nehmen das Handy mit aufs WC oder haben es dabei, wenn die Kinder in der Badewanne planschen. Läuft der Geschirrspüler, hören sie den Telefon-Beantworter ab, schauen auf Facebook nach, ob es neue Einträge gibt oder checken noch kurz die Mails. Und, wer viele Dinge schneller als bisher erledigen kann, ist nicht nur stolz, sondern auch der Überzeugung, das Zeitproblem gelöst zu haben.
Dies zeigt sich auch am Wochenende. Paare geben sich alle erdenkliche Mühe, das während der Woche Liegengebliebene nachzuholen: den Grosseinkauf, den Sonntagssport, das Freizeitprogramm mit Kind und Hund, den Abstecher zu den Grosseltern, aber auch Familienwärme, Sex, Gespräche mit dem Partner und Nachdenken über sich selbst und den nächsten Karriereschritt. Zwar wünscht man sich schon am Donnerstag ein schönes Wochenende, aber eigentlich ist dieses vor allem dazu da, die Zeitverschwendung auszumerzen. Deshalb muss man sich noch den halben Montag davon erholen.
Früher war das Geldsparen eine Tugend, heute ist es die Effizienz
Effizienz ist die neue häusliche Tugend, genauso wie dies früher das Geldsparen war. Die abendliche Familienzeit ist zu einem fast mit der Stoppuhr kontrollierten Arbeitssegment geworden, zum nervös machenden Pausenfüller zwischen zwei Systemen. Viele Eltern fühlen sich als Zeitmanager, die den Nachwuchs andauernd antreiben müssen. «Mach schon!» «Aber sicher nicht heute!» «Wenn du nicht kommst, dann gehen wir!» – dies sind nur drei Beispiele der täglichen Hetzerei. Kinder sind jedoch Schlaumeier, die solche Aufforderungen auf ihre eigene Weise beantworten und sich gegen das Tempo und die ständigen Deadlines aufzulehnen beginnen. Am Abend trödeln sie und finden das Pyjama nicht mehr; sie wollen ausgerechnet dann vom Spielplatz wieder nach Hause, wenn eigentlich noch Zeit zum Bleiben wäre oder sie bekommen am Morgen genau in dem Moment einen Wutausbruch, wenn es Zeit zum Gehen ist. Manchmal möchten sie eben keine Qualitäts-, sondern Quantitätszeit, aber vielleicht auch einfach etwas weniger gestresste Eltern.
Wir sind nicht nur Gefangene, sondern auch Architekten der Zeitfalle
Natürlich darf man nicht dramatisieren. Die Beschleunigungen, die unsere Gesellschaft erfasst haben, gehören nun einmal zum Berufs- und Familienalltag, und die Realität ist komplex. Trotzdem sind wir uns viel zu wenig bewusst, dass wir nicht nur Gefangene, sondern ebenso Architekten der Zeitfalle sind, in der wir uns befinden. Wer dies erkennt, auf leise oder laute Proteste der Kinder hört und Frustrationen ernst nimmt, wird den eigenen Lebensstil zu ändern versuchen. Eltern, die nicht sofort zu einem Therapeuten rennen, sondern weniger Aufmerksamkeit auf die Kinder richten und mehr auf die eigene Befindlichkeit, machen ihnen das grösste Geschenk. So lernen sie nämlich, wie man sich entspannt und mit Stress umgeht. Der Pädagoge Janusz Korczak hat einmal gesagt, dass Kinder ein Recht auf den heutigen Tag haben und sie in der Gegenwart verharren dürfen. Dieses Recht müsste man auch den Erwachsenen zugestehen.
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Kommentare 1
Liebe Frau Stamm, Sie sprechen mir aus dem Herzen - sowohl als "Betroffene" als auch als Befürworterin Ihrer Schilderungen. Danke für den tollen Beitrag.
Mit guten Vorsätzen und besten Grüssen
Nicole Iselin